Sonntag, 7. Juni 2020

Malerei & Fotografie - Wo ist der Mensch?




Ich bin die Mutter, die im Haus den Kuchen bäckt,
der Leuchtturmwärter, der die Lichtmechanik überprüft,
und auch der Kapitän auf hoher See, der sich am Leuchtturm orientiert.

Ich bin die Kinder, die im Garten spielen,
die frischgewaschne Wäsche, die im Wind flattert.
Ich bin der Briefträger, der die Post bringt,
und der Buschauffeur, der vor dem Wartehäuschen hält.

Ich bin der Wanderer, der mit seinem Hund vorbeimarschiert,
und auch die Bauarbeiter, die Stein um Stein den Turm gemauert haben.

Ich bin die Gegensätze, die starken
Kontraste und die klaren Farben,
das gleissende Licht,
die tiefen Schatten und der Wind.

Ich bin die, die den Elementen trotzt,
der alte Leuchtturmwärter, der bis zuletzt
die vielen hundert Stufen
hochsteigt,
sich hochkämpft,
um das Licht zu entzünden,
damit es blinkt und anderen den Weg weist,
einfach weil das seine Aufgabe ist.

Und ich bin auch der Maler, der dasteht mit seiner Leinwand,
um all das festzuhalten für die Ewigkeit, oder auch nicht,
einfach weil das seine Aufgabe ist.

Ich bin all das und noch viel mehr,
ich und wir alle,
verbunden in der Ewigkeit der Zeit
und der unendlichen Weite des Raumes.


Der Text ist in der Auseinandersetzung mit einem Gemälde von Edward Hopper entstanden, das ich in der Ausstellung der Fondation Beyeler gesehen habe, "Lighthouse Hill" von 1927 (https://artsandculture.google.com/asset/lighthouse-hill/hwFpoxNDVKR0bw?hl=de). Der Betrachter schaut von unten auf eine Hügellandschaft, und auf dem Hügel steht fest und beständig ein Leuchtturm, der selbst von der Sonne beleuchtet wird, mit einem Haus daneben. Kein Mensch ist weit und breit zu sehen, auch Meer und Küste nicht, nur weite grüne Hügel, dunkle Schatten und ein tiefblauer Himmel mit wenigen Wolkenschlieren. Ich hatte Assoziationen von Verschlossenheit, Isolation und unüberbrückbarer Distanz, gleichzeitig auch von Weite und Unendlichkeit. Und wie fast immer bei Hopper habe ich mich mit einem Gefühl von Beklemmung gefragt, wo hier die Menschen sind. Bis ich am Rand des Bildes, ganz unten in der rechten Ecke, etwas entdeckt habe, was keine Hügel, keine Natur ist, sondern ganz klar etwas von Menschenhand Gebautes, fast nicht erkennbar und leicht zu übersehen: ein Teil einer Mauer? das Dach eines Verschlages? ein Trafohäuschen? Und da habe ich angefangen die Menschen zu sehen, überall.