Die damit verbundenen Bilder und Gedanken sind negativer Art: tief ausgeschnittene Dirndl in den knalligsten Farben und Lederhosen aus dem Aldi, stundenlanges Anstehen vor dem Gedränge in den Festzelten, grölende Gruppen betrunkener Jugendlicher, hektoliterweise überteuertes Bier und knapp eine Million verspeiste Tiere, Busladungen von Touristen, die sich unter dem Deckmantel der Tradition volllaufen und abzocken lassen, und Servierpersonal, das mit Bayern nichts verbindet ausser Geschäftstüchtigkeit. Tradition und Folklore als Modegag und organisiertes Massenbesäufnis. Wen wundert's, dass echte Münchner kaum mehr hingehen, denn mit Volksfest hat das nichts mehr zu tun. Ich bin froh, als mein Regionalzug den Hauptbahnhof in Richtung Salzburg verlässt.
Wie unterschiedlich erlebe ich, nur einen Tag später, ein anderes Volksfest in Bayern: Es ist Almkirta (Alm-Kirchtag) in Ruhpolding, Oberbayern.
Auf dem Podium spielt eine traditionelle bayerische Blasmusik, bestehend aus gestandenen Männern. Daneben gibt es aber noch zahlreiche kleinere Volksmusikgruppen, verteilt auf dem ganzen Festgelände. Und erstaunlicherweise sitzen an den Harfen und Hackbrettern praktisch ausschliesslich Jugendliche und Kinder.
Wie die anderen schauen wir den Darbietungen der Trachtengruppe zu und bewundern die Goasslschnalzer und Schuhplattler und wie sie alle heissen - übrigens auch diese fast ausschliesslich Kinder und Jugendliche. Dazwischen besuchen wir die Ausstellung der lokalen Naturkünstler und spazieren immer wieder mal an den Handwerkerständen vorbei. Der Fotokünstler liebäugelt mit einer handgeschmiedeten Glocke, ich erstehe eine wunderschöne kleine Tonschale. Dann setzen wir uns wieder an die Sonne, kommen mit den Leuten ins Gespräch und geniessen das gemütliche Beinandersein.
Zuletzt gibt's noch eine Versteigerung von frisch gebackenen Brotlaiben. Der Versteigerer hört dabei immer bei fünf Euro auf, nach weiteren Geboten aufzufordern. Dabei bin ich sicher, dass die Besucher noch mehr bieten würden. Doch Begriffe wie Maximalgewinn und Konkurrenzkampf passen nicht hierher - Anstand und Würde sind hier noch die wichtigsten Werte.
Wie teuer das Bier ist, weiss ich nicht, da wir keins getrunken haben. Brathendl sucht man vergebens, dafür gibt's selbstgemachte Kuchen, Brote mit Almkäse und Flammkuchen frisch aus dem Holzofen. Und obwohl auch Bier verkauft wird, sehe ich den ganzen Tag keinen einzigen Betrunkenen.
Am späteren Nachmittag brechen dann alle langsam wieder auf, bereichert um ein Fest, wo das gefeiert und erneuert wurde, was die Menschen hier verbindet und zusammenhält: Brauchtum und Tradition, wahrhafte Volkskultur, die immer noch tief verankert ist in der bayerischen Gesellschaft.
Ein Stück heile Welt? Klar. Auch vor Ruhpolding machen Globalisierung und Moderne nicht Halt. Doch an diesem märchenhaften Tag spüren wir, wie wichtig Kultur und Tradition für eine Gesellschaft sind, sofern sie authentisch gelebt, erneuert und weitergegeben werden, und wieviel Kraft, Stärke und Zusammenhalt sie den Menschen geben kann, wenn sie gepflegt werden.
Mehr Fotos von diesem Anlass auf meiner Flickr-Seite: https://www.flickr.com/photos/dianamicelli/