Freitag, 23. November 2018

Sonntagnachmittag im Winter

Ob ich mich daran erinnern werde, wenn ich alt und gebrechlich bin? Wenn ich vielleicht in einem Bett im Pflegeheim vor mich dahinvegetiere oder in einer sich auflösenden Alzheimer-Welt gefangen bin? Ob ich mich erinnern werde an die Sonntagnachmittage mit Nero auf dem Sofa, wenn es draussen garstig kalt und neblig war? Wie wir dagelegen sind, ich mit einem Krimi in der Hand und Nero langgestreckt auf meinen Beinen? Unermüdlich in unserer urgemütlichen Faulheit, beide schnurrend vor wohliger Behaglichkeit und Glück.




Sonntag, 23. September 2018

Pendler am Abend (Entfremdung III)

Gedränge von Beinen und müdes Geschubse von Rucksäcken am Bahnsteig,
abgelöschte Gesichter flüchten sich in Smartphones und Gratiszeitungen ohne Inhalt
- dürftiger Schutz vor Lärm und Beklemmung.
Geschlossene Augen, Stöpsel in den Ohren, schweigende Münder.


Weit oben am tiefblauen Himmel dreht ein Milan einsam seine Runden
und Mauersegler überschlagen sich in wilden Kapriolen.

Samstag, 1. September 2018

Und plötzlich ist es Herbst

Auf einmal ist er da, der Herbst. Am vergangenen Sonntag ist er eingetroffen. Alle haben es gemerkt, auch wenn niemand genau hätte sagen können, warum. Der Radiomoderator sprach schon am Morgen früh vom "ersten Herbsttag" und am Konzert begrüsste uns die Musikerin mit den Worten: "Schön, dass Sie an diesem... [Blick zum Fenster]... ja... [Zögern]... an diesem... herbstlichen... Sonntag nach Rheinau gekommen sind." Uns Besuchern ging es genau so wie der Musikerin. Wir waren ebenso verblüfft und konnten es kaum glauben, dass es auf einen Schlag so offensichtlich Herbst geworden war nach diesem Sommer, der ewig zu währen schien.

Der Herbst präsentierte sich an diesem Tag in seinem schönsten Gewand: tiefblauer Himmel, strahlender Sonnenschein, die Temperaturen kletterten, nachdem sich der Morgennebel aufgelöst hatte, steil in die Höhe und erreichten schon fast wieder sommerliche Werte. Und doch war es eindeutig Herbst. Wir sahen es am goldenen Licht, an den satten Farben, wir rochen seinen Duft, ja selbst die Luftbeschaffenheit war anders. Auch wenn es noch schöne, warme, möglicherweise sogar sommerlich heisse Tage geben wird: Der Sommer ist vorbei, der Herbst ist da.




Diesen ersten Herbsttag habe ich auf der Musikinsel Rheinau verbracht. Ich war an einem Morgenkonzert des Harfen-Duos "Arpe Diem".
Das Dörfchen liegt noch im Sonntagmorgenschlaf, als mich das Postauto an der Endstation rauslässt. Ich spaziere weiter auf der Dorfstrasse in Richtung Rhein, hinunter zur Brücke, vorbei an Abschrankungen und wenigen Menschen, die dabei sind, Stände und Festbänke für das Weindegustationsfest aufzustellen. Noch ist alles ruhig, leichter Nebel liegt über dem Wasser. Ich bin zu früh, ich habe Zeit, die Musikinsel zu erkunden, und freue mich aufs Fotografieren. Ich überquere die Brücke zur Klosterinsel und tauche ein in eine andere Welt. Stille empfängt mich. Besinnlichkeit erfüllt die Atmosphäre und ein Zauber liegt in der Luft.





Das Kloster dümpelte anscheinend jahrelang vor sich hin, bis unter Initiative von Christoph Blocher eine Stiftung ins Leben gerufen wurde, die es wieder aus seinem Dornröschenschlaft geweckt hat. Das Kloster wurde saniert und zur Musikinsel umfunktioniert. Musikerinnen und Musiker können hier zu bezahlbaren Preisen übernachten, Proberäume mieten und sich ganz ihrer Kunst widmen. Man mag von seinen politischen Ansichten halten, was man will. Doch mit der Renovation des Klosters und dadurch, dass es ausschliesslich der Musik gewidmet wurde, hat Christoph Blocher nicht nur den Musikern ein einzigartiges und mutiges Geschenk gemacht.

Musik höre ich auf der Klosterinsel - ausser am Harfenkonzert - keine, und doch ist die kreative Energie überall zu spüren. Sie erfüllt die ganze Insel auch ohne Töne. Wie gut passen da die minimalistischen Klänge des Komponisten Arvo Pärt, die die Harfenistinnen erklingen lassen, an diesem Ort: Seine Musik ist auf das absolut Wesentliche reduziert und repräsentiert dabei in dieser extremen Einfachheit doch die Vergänglichkeit und Ewigkeit. Ein einzelner Ton, wenn er schön gespielt ist, reicht, soll er gesagt haben.

Der Nebel löste sich schnell auf, die Farben waren prächtig, die Stimmung gut, das Konzert stimmig. Zurück in Richtung Dorf, jenseits der Brücke, ist das kleine Weinfest schon im Gange. Besucher und Ausflügler unterhalten sich, die Weinkellereien laden zur Degustation ein, eine Jazzband spielt dezent vergnügte Melodien, ein Grillstand verkauft Bio-Würste. Mit einer Chiliwurst in der Hand spaziere ich gemütlich wieder hinauf ins Dorf zum Postauto.


Samstag, 18. August 2018

Spätsommer

Katerstimmung im schweigenden Bus, der früh morgens die Pendler zur Bahn fährt. Die Luft ist immer noch überraschend warm und schwül. Gewitterwolken ziehen auf. Ein Reiher segelt tief übers dürre Stoppelfeld.


Die Chefin nervt, die Arbeit stresst, die Züge sind wieder dicht gefüllt. Die Ferienzeit ist vorbei, der Alltag hat uns wieder, das grosse Sommerfest neigt sich dem Ende zu. Der Spätsommer beginnt.


Freitag, 27. Juli 2018

Sehnsuchtsort Sommerferien

Es gibt nichts Schöneres für mich als Badeferien in Lignano Sabbiadoro - nicht Lignano Pineta, auch nicht im schönen Grado oder Bibbione. Caorle oder wie die anderen Badeorte entlang der adriatischen Küste weiter südlich alle heissen schon gar nicht. Meine Schwester hat einmal Rimini ausprobiert, ich Grado - und andere, nähere und exotischere Badedestinationen. "Lignano ist besser", lautet unser Urteil einhellig. Lignano Sabbiadoro, wo wir schon als Kinder unsere Badeferien verbracht haben. Im "Albergo Al Ponte" werde ich an meinem Anreisetag herzlich begrüsst: "Wir hatten dich schon viel früher erwartet!", die Bademeister des Ufficio Spiaggia numero 10 kümmern sich diskret um mein Revier - ein Sonnenschirm mit zwei Liegen, Reihe 13, Nummer 17. Wie früher, wie immer schon. Reaktivieren von Kindheitserinnerungen. Meine Ferien in Lignano geniesse ich doppelt, mit einem Bein der Gegenwart, mit dem anderen zurückversetzt in die Zeit meiner Kindheit.  Synchronisierte  Parallelwelten. Jeder Schritt überblendet durch dieselben Schritte in anderen Zeiten: ich als Kind, als Jugendliche, mit meinem Mann, meinem Freund, mit meiner Freundin.



Im gelobten Land meiner Kindheit hat sich nur wenig verändert: "Unsere" Pension hat jetzt "Wifi" und Klimaanlage, und letztes Jahr wurden kleine Balkone angebaut. Sie wird jetzt von der Tochter geführt, die ungefähr in meinem Alter ist. Da sie aber gleich aussieht wie ihre Mutter, verstärkt sich die Illusion, in die Zeit meiner Kindheit zurückversetzt zu werden. Den verrückten Kokosverkäufer am Strand gibt es auch immer noch - "Coccobelloooo, cocco di mamma, coccoooooo!" Der Eisverkäufer hat aufgerüstet, sein Wagen wird jetzt elektrisch betrieben, und er verkauft viel mehr als nur sechs Sorten selbstgemachtes Eis. Offeneis gibt es am Strand keines mehr, nur noch das abgepackte von Nestlé und Co. "Una pallina di cioccolata e una di stracciatella" sind Opfer moderner Hygienegesetze und internationaler Wirtschaftskonzerne geworden. Ich kaufe mir ein Strandkleid beim mobilen Kleiderhändler am Strand. Er ist aus dem Friaul, währenddem die Kleider- und Strandwarenläden im Zentrum allesamt fest in asiatischer - indischer? pakistanischer? srilankischer? - Hand sind. Ausnahmslos alle bis auf einen, bei dem ich aber trotz bestem Willen wirklich gar nichts finde, das ich ihm abkaufen könnte. Mit seiner Mode ist auch er in den 70er-Jahren stehengeblieben, mindestens.




Ich vermisse meine Familie, das Kindsein, Muschelsammeln am Strand früh morgens mit meiner Tante, die Strandfotografen mit ihren Plastikmuscheln, in die man sich zum Posieren hineinsetzen konnte, Herumplanschen mit meinen Cousins, meinen Onkel, der uns an der Hand hinter sich herzog, weil wir Angst hatten, im seichten Wasser auf einen Krebs zu treten. Die heile Welt der Kindheit, die  Familienidylle der unbeschwerten 70er-Jahre. Verklärt, nostalgisch, idealisiert, mit einem Hauch von Sepia wie die verbleichenden Fotos von längst vergangenen Sommerferien. Schöne alten Zeiten, die es so wohl gar nie gab. Dass die 70er-Jahre wieder Kult werden, zeigt nur, wie alt ich geworden bin.


Heute wähle ich selber aus, mit wem ich nach Lignano fahre und mit wem ich den Schatten meines Sonnenschirms teile. Ich wähle aus, welche Tischnachbarn in der Pension mir sympathisch sind, mit wem ich Freundschaft schliesse und welche Rituale ich pflege. Die meisten sind allerdings tatsächlich immer noch dieselben wie die, die ich von meinen Eltern übernommen habe. Hätte ich Kinder, wären sie wohl auch in deren DNA übergegangen. Ich entwickle aber auch neue Rituale wie lange Strandspaziergänge und einen "Macchiato" auf der Terrazza Mare am Morgen, und - ganz neu - einen Franciacorta vor dem Abendessen. Auf den Besuch des Luna Parks verzichte ich jetzt, ebenso auf den Bummel in der dichtgedrängten Fussgänger- und Lädenzone am Abend. Dafür lasse ich mir unendlich viel Zeit in meiner Lieblings-Buchhandlung mit dem schönen Namen "L'Elefante Bianco" und schlendere zum Verdauen durch die ruhigen Hintergassen, wo es nichts zu sehen und zu finden gibt, nur Ruhe, Duft nach Pinien und das laute Zirpen der Zikaden in der lauen Nachtluft.


Freitag, 13. Juli 2018

Zazen in Fischingen

 

Es ist wirklich schön,
etwas zu sehen,
und dann zu sehen,
dass es gesehen wird.

 

 

Text und Blumenarrangement von Bertold Albus, Fotos von mir, entstanden am Zen-Meditationstag in Fischingen ("Zazen bei den Benediktinern") diesen Frühling.

Sonntag, 1. Juli 2018

Frühstück im Garten - Sommer

Guten Morgen, heiteres Vogelgezwitscher aus dem undurchdringlichen Versteck der dicht bewachsenen Baumkronen!
Guten Morgen, erstes Joggerpärchen, in fröhlich gelb und pink leuchtenden Shirts und den farblich dazu abgestimmten Sportsocken!
Guten Morgen, scheues Kätzchen auf mutiger Erkundungstour durch nachbarschaftliche Gärten im Schutz der Sonntagsmorgenstille!




Guten Morgen, erster Motorradfahrer auf der beliebten Ausflugsstrecke, und guten Morgen erstes Auto auf dem Weg zur Arbeit, und guten Morgen erster Bus!
Guten Morgen, wieherndes Pferd auf der Koppel, und guten Morgen altes Shetlandpony beim morgendlichen Sonnenbad!
Guten Morgen, Lichterspiel der Sonne im Garten!


Guten Morgen, Mäusebussard, der majestätisch konzentriert seine Runden dreht, zwei auch direkt über meinem Kopf!
Guten Morgen, weisser Langhaar-Kater, wie immer schon beim Mausen auf dem Feld!
Guten Morgen, Plätschern des Brunnens!



Guten Morgen, alte Hundehalterin beim langsam-zähen Morgenspaziergang mit dem ebenso alten Hund!
Guten Morgen, dröhnender Oldtimer, elegant schwarz, frisch gewachst und blank poliert für diesen Tag!
Guten Morgen, angenehm säuselnder Wind, der die Blätter zum Rauschen bringt wie Regen oder Meeresbrandung!


Guten Morgen, Morgenfrische zu Beginn eines langen, heissen Sommertags!


Sonntag, 24. Juni 2018

Pfingstrosen

Es gibt nur einen Ort,
den hier und jetzt.

Es gibt nur einen Weg,
meinen hier und jetzt.

Tausend Orte,
unzählige Wege,
unendlich viele Möglichkeiten!

Doch in Wahrheit gibt es
nur eine
Wirklichkeit:
hier und jetzt.




Dies zu erkennen, zu akzeptieren und mich damit zu versöhnen ist ein lebenslanger Prozess. Den Jungen macht man weis, ihnen würde die ganze Welt offenstehen. Auch ich hielt das für  selbstverständlich wahr. Viel später kam die Krise, als ich realisierte, dass manche Türe ganz unbemerkt definitiv ins Schloss gefallen war. Und mit ihr kam die Panik, dass die vielen anderen, die ich unbedingt auch noch durchschreiten wollte, ebenfalls zugehen könnten, wenn ich nicht aufpassen und mich beeilen würde. Noch etwas später dann erkannte ich, dass ich es nicht mehr schaffen würde, sie alle zu durchschreiten, und ich erkannte auch, dass mir in Tat und Wahrheit noch nie die ganze Welt offengestanden ist, dass es die unendlich vielen Möglichkeiten in Wirklichkeit nie gab. Nun gilt es, mich damit auszusöhnen, mit den geschlossenen Türen und meinem Hier und Jetzt, so wie es ist. Und auch den Weg, den ich gegangen bin, anzuerkennen, ihn wertzuschätzen und zu würdigen. Doch so weit bin ich noch nicht ganz.


Sonntag, 13. Mai 2018

Orange

Als Mädchen war meine Lieblingsfarbe Rot. Eindeutig und ohne jeden Zweifel. Jeder hatte damals eine Lieblingsfarbe. Die gehörte so selbstverständlich zu einem wie die Wohnadresse oder das Geburtsdatum. Die Lieblingsfarbe der meisten war Rot oder Blau. Meine Klasse liess sich dadurch in ungefähr zwei gleich grosse Lager einteilen. An andere Lieblingsfarben kann ich mich nicht erinnern. Ich wüsste nicht, dass jemand Braun oder Gelb oder Orange als Lieblingsfarbe genannt hätte, nicht einmal Grün. Trotzdem hatte ich einen orangen Schülerthek. Aber wahrscheinlich nur, weil es keinen roten gab. Meiner Lieblingsfarbe Rot bin ich mein Leben lang treu geblieben.


Als Jugendliche hasste ich Rosa. Rosa war für mich der Inbegriff des angepassten, süssen Mädchens, das ich nicht sein wollte. Ich war dazu gebildet worden, mit dem eigenen Verstand zu denken, eine eigene Meinung zu haben, eigene Vorstellungen zu entwickeln und alles zu hinterfragen, was vorgegeben war - dazu gehörten auch die Rollenbilder, die der Frau sowieso. Wir waren die Erben der 68er und der Emanzipation. Rosa war das Gegenteil davon. Rosa klang nach Püppchen, nach Illusion, nach Hollywood-Märchen. Niemand in meiner Klasse, absolut niemand wäre je auf die Idee gekommen, ein rosafarbenes Kleidungsstück zu tragen. Zerrissene Jeans, dunkle, ausrangierte X-Large-Pullis des Vaters und Schwarz, das war unsere Farbe. Aber Rosa? Niemals!



Als Erwachsene hasste ich Orange. Orange war die Altfrauenfarbe schlechthin. Alle alten Frauen lieben Orange. Bunt müsse es sein, das sei doch so schön! "Die Welt ist eh schon grau genug, da bringt doch Farbe Freude ins Leben!" Gemeint waren richtig knallige Farben, und sehr gerne auch Orange. Meine Schwiegermutter hatte ein ganzes Zimmer in Orange eingerichtet. Innerlich schüttelte ich immer den Kopf, wenn ich da reinmusste. Die Besitzerin des einzigen, mittlerweile eingegangenen Geschenkeladens im Dorf, verkaufte mir einmal einen orangefarbenen Schirm. Sie hatte nur noch orangefarbene Knirpse, oder solcherart gemusterte, dass Orange das kleinere Übel war. Ich kaufte den Schirm zwar, habe ihn aber immer gehasst. So sehr ich mich auch anstrengte und mir immer wieder sagte: "Es ist doch nur ein Schirm". Und ausgerechnet der ging nie kaputt oder verloren. Irgendwann, ich weiss es nicht mehr so genau, ertrug ich ihn nicht mehr und warf ihn weg oder 'vergass' ihn irgendwo absichtlich. Einfach, weil ich die Farbe nicht mehr ertrug.


Heute Vormittag begegnet mir Orange überall. Es springt mich regelrecht an. Noch weit davon entfernt, meine Lieblingsfarbe zu sein, finde ich ein paar orange Tupfer unterdessen noch ganz hübsch, sonnig und warm. Mittlerweile schaue ich mich beim Kleiderkauf selber nach Farben um. Im Winter höre ich mich zur Verkäuferin sagen: "Immer dieses Schwarz, Grau und Braun, allerhöchstens mal Weiss - wie schade, dass es nicht mehr Buntes zum Anziehen gibt, wo doch das Wetter eh schon grau und düster genug ist!" Die junge Verkäuferin nickt und wird sich ihre Sache denken.


Orange ist immer noch nicht meine Lieblingsfarbe, aber ich habe mich unmerklich mit ihr ausgesöhnt: Ich habe eine orange Festplatte, eine orange Giesskanne und mein schicker Fernseher hat einen orangefarbenen Rahmen. Und das Kleid, das ich mir gestern gekauft habe, hat verdächtig viel Orange in seinem bunten Muster.

Sonntag, 6. Mai 2018

Blütenträume - im Frühling, Sommer, Herbst oder Winter

Der Frühling kam dieses Jahr spät, dann kam er geballt, und schon ist er wieder vorbei. Welcher Frühling? Der meteorologische? Oder der astronomische? Der meteorologische Kalender unterteilt das Jahr stur nach den Kalendermonaten in vier Jahreszeiten à drei Monaten. Der astronomische kennt ebenfalls vier ähnlich lange Jahreszeiten, errechnet Beginn und Dauer dieser aber nach einem  komplexen Sonnenstand-Modell. Den phänologischen Kalender kennt man weniger. Er unterteilt das Jahr nicht nach fixen Daten, sondern flexibel nach dem Blühen gewisser Pflanzen und anderen Naturbeobachtungen. So kennt er nicht vier, sondern immerhin zehn Jahresperioden. Doch selbst diese Unterteilung wird dem Jahr und seinen Veränderungen nicht gerecht.



Heute spaziere ich unter einer düsteren, grauen Hochnebeldecke, wie wir sie hier sonst nur im Winter kennen. Der garstige Wind der letzten Tage erinnert mich eher an Herbststürme als an Frühling. Und doch liegt auf den Wiesen das frisch gemähte Gras und in der Ferne leuchten gelb die Rapsfelder. Das traumhafte Blütenmeer, das ich auf diesen Fotos einzufangen suchte, ist jedoch schon Vergangenheit, und im Wald schliesst sich nun auch die letzte Lücke in den Kronen und Büschen zur undurchdringlichen grünen Wand. Die Zeit der Üppigkeit beginnt, der Sommer. Herbst im Frühling, der schon fast Sommer ist? 



Offenbar haben wir Menschen das Bedürfnis einzuordnen, zu katalogisieren und kategorisieren. Das gibt uns ein Gefühl zu verstehen, zu kontrollieren und zu beherrschen. Es gibt uns ein Gefühl für Sicherheit in einer Welt, die mit Intellekt und Logik nie ganz begriffen werden kann, und kontrolliert schon gar nicht.




Konzepte und Begriffe sind die Grundlage unserer gemeinsamen Sprache. Sie ermöglichen es, die Dinge zu benennen, so dass auch andere sie verstehen - zumindest ansatzweise. Doch sie sind grob und vereinfachend, und vielfach unzulänglich. Sobald es genauer werden soll, wird's schwierig, da fehlen uns die Worte und es kommt leicht zu Missverständnissen.

Die Welt lässt sich nicht einordnen und erklären. Kategorien und Sprache sind Hilfsmittel, das Universum jedoch ist unfassbar und widersteht hartnäckig jedem Einordnungs-, Erklärungs- und Kontrollversuch. Zuerst war da die Welt, danach kamen Konzepte und Sprache. Nicht umgekehrt. Manchmal vergessen wir das und sind dann verwirrt und verärgert, wenn das Leben sich nicht so verhält, wie wir es uns im Kopf so schön zurechtgelegt hatten.


Sonntag, 22. April 2018

Frühling - Frühstück im Garten

So schnell kann sich alles ändern. Nach dem langen Winter ging es ruckzuck durch sämtliche Frühlingsstadien hindurch bis hin zum - zumindest temperaturmässig - Hochsommer.

Heute konnte ich bereits zum zweitenmal im Garten frühstücken. Mein alter Kater Nero ist immer noch dabei, auch wenn ihn die neugierige Nachbarskatze so gestresst hat, dass er bald wieder reingegangen ist. Vor einem Jahr noch hätte er sie vertrieben.


Ich stelle den Frühstückstisch so um, dass ich mit dem Rücken zur Sonne sitze. Es ist angenehm warm. Ich geniesse meinen Kaffee, die Sonntagmorgenruhe und schaue dem Spektakel zu, das sich vor meinen Augen abspielt: Die frühe Morgensonne wandert durch den Garten und beleuchtet mal dies, mal das, zeichnet Schatten und modelliert Formen. Wie ein Scheinwerfer strahlt sie den Birnbaum an, der bereits in voller Blüte steht, die rosa Knospen des alten Apfelbaums, taucht den Bambus in goldenes Licht, strahlt das junge Lavendelbäumchen an, zeichnet ein zartes Spiel aus Licht und Linien mit den noch kahlen Ästen und Zweigen des Nussbaums und lässt aus den tanzenden Blütenkätzchen der Birke ein rauschendes Lichtermeer entstehen.





Und während ich sitze und mich von diesem Schauspiel verzaubern lasse, fallen mir die Verse einer alten Kirchenmotette ein: "Alles strebt dem Licht entge-he-gen, alles strebt zum Licht! Alles strebt dem Licht entge-he-gen, alles strebt zum Licht. Aaaa-lles aaaa-lles, alles strebt zum Licht." Die einfache Melodie geht mir nicht mehr aus dem Kopf und begleitet mich noch durch den ganzen Tag.


Freitag, 23. Februar 2018

Spaziergang in Weisslingen - fotografische Spielereien

Es gibt Tage wie diese, grau, windig, kalt - einfach rundum öde und garstig.



Heute habe ich zu überhaupt nichts richtig Lust und zum Rausgehen schon grad gar nicht. Das innere Kind stampft und trotzt: Es wird sicher nicht raus gehen! Es hat überhaupt keinen Bock, weder aufs Spazieren noch aufs Fotografieren. Es hat die immer gleichen Wege satt und findet die ewig gleichen Motive so was von langweilig! Auf gar keinen Fall und überhaupt kommt nicht in Frage! Doch da ist noch eine andere Stimme, eine leisere, warme, liebevolle, die sanft sagt: Du weisst, dass es dir gut tun wird, und wenn du erst mal draussen bist, ist es gar nicht so schlimm. Die Kamera kannst du ja einfach umhängen, du brauchst gar nicht zu fotografieren, wenn du nicht möchtest. Falls du dann doch etwas siehst, hast du sie wenigstens dabei.



Die mütterliche Stimme überzeugt mich und ich mache mich bereit für den Sonntagsspaziergang. Das trotzige Kind schreit lauter und wehrt sich nach Kräften, es hat immer noch überhaupt keine Lust. Da fällt mir ein, wie ich das Kind vielleicht doch noch überzeugen kann: mit einem Spiel! Wir spielen ein Spiel mit der Kamera, es nennt sich "Getting grounded". Das Kind hat aufgehört zu murren, schaut mich jetzt mit wachen Augen an und hört mir aufmerksam zu. Alle Fotos, die wir heute unterwegs machen werden, machen wir von Bodenhöhe aus,  aus dem Blickwinkel einer Maus sozusagen.



Das Problem dabei ist einerseits der Schnee und anderseits die Bildkomposition, denn selbst wenn ich mich auf den Bauch legen würde, wäre es schlecht möglich, vor dem Auslösen durch den Sucher zu schauen. Fürs erste Problem gibt's eine einfache Lösung. Sie heisst GorillaPod und ist ein leichtes Ministativ aus Plastik, das sich in alle Richtungen biegen und drehen lässt. Ich möchte nicht, dass die Kamera im Schnee oder Schlamm versinkt. Fürs zweite Problem gibt es mehrere Möglichkeiten: Ich kann runterknien und versuchen, das Foto so gut es geht zu planen. Oder ich kann alles auf Automatik stellen, mich über die Kamera beugen, auf gut Glück den Auslöser drücken und mich von der Kamera überraschen lassen. Oder Varianten dazwischen ausprobieren.





Das innere Kind ist voller Vorfreude und hat jeglichen Widerstand aufgegeben. Ich ziehe los. Draussen bläst ein eisiger Wind und es ist wirklich garstig, so dass ich meine übliche Spazierrunde abkürze. Aber in der Zeit, in der ich draussen bin, habe ich eine Menge Spass mit dem Rumexperimentieren. Ich bin so versunken in meinem fotografischen Spiel, dass ich die Zeit vergesse und erst wieder heimkehre, als meine Finger taub sind vor Kälte. Mit einem breiten Lächeln und einem jauchzenden Kind.


Die Fotos, die heute entstanden sind, erstaunen mich. Derselbe Weg wie immer, dieselben Motive - aber was so ein kleiner Perspektivenwechsel doch für einen Unterschied machen kann! Ich komme mit völlig anderen Bildern heim wie sonst, und jedes Bild ist eine kleine Überrachung.



Diese fotografische Übung ist nicht auf meinem Mist gewachsen, sondern stammt vom Online-Kurs "Picture Spring" (https://tracey-clark.teachable.com/p/picture-spring-sp) von Tracey Clark (http://traceyclark.com). Ich kann den Workshop jeder/m empfehlen, der gerne rumexperimentiert und spielerisch-fotografisch in den Frühling starten will. Viel Spass!