Montag, 15. Juli 2013

Ein Sommertag

Endlich Hochsommer! Endlich sind sie da, die Tage im Jahr, auf die ich mich am meisten freue: Hitze, Tropennächte und viele Sonnenstunden, ab und zu ein Platzregen, jacken- und sockenloses Leben im Freien. Das sind die Tage, die ich am meisten geniesse!


Schon zum Frühstück sitze ich auf meinem Sitzplatz. Ich freue mich über den warmen Kaffee, denn die Luft ist noch frisch, schon fast kühl, und das Gras noch feucht vom Tau. Ich lausche dem Vogelgezwitscher und rieche Düfte von Pflanzen und Erde. Um mich herum beobachte ich das emsige Treiben von Tieren und Menschen: Handwerker, die zu ihren Aufträgen fahren, Pendler im Bus unterwegs zum Bahnhof, Jogger auf dem Feldweg. Von hinterm Haus höre ich das Plappern der Kinder auf dem Weg zum Kindergarten, begleitet von ihren Eltern. Und das Scheppern der Giesskannen meiner Nachbarin, die die frühen Stunden für die Gartenarbeit nutzt.


Ich versuche, den Sommertag festzuhalten, ihn auszudehnen und zu verlängern, indem ich mich voll und ganz auf ihn konzentriere, und jeden Moment mit allen Sinnen bewusst wahrnehme.

So beobachte ich jetzt, wie die Sonne höher und höher steigt, unaufhaltsam, und mit ihr die Temperatur. Die angenehme Frische wird zu Wärme, diese wiederum zu glühender Hitze, die irgendwann so drückend wird, dass selbst ich mich gerne ins Haus verziehe. Alles ist still. Die Sonne dominiert die Welt. Das gleissende Licht bleicht alle Farben aus, Geräusche verstummen, kein Vogel zwitschert mehr. Alles liegt im Schatten, kein Laut ist zu hören, keine Bewegung zu sehen. Die Luft flirrt, das Tempo verlangsamt sich, einen klaren Gedanken zu fassen, ist kaum mehr möglich. Die Luft brennt wie aus einem heissen Föhn auf meiner Haut.

Auf einmal verändert sich etwas. Als ob ein Ruck durch die Welt gehen würde, beginnt sich der Zauber zu lösen. Zu Beginn ganz unmerklich, doch dann geht es plötzlich sehr schnell und alles gerät wieder in Bewegung. Als hätten sich alle abgesprochen! Die Schatten werden länger, die Vögel singen wieder, die Autos der heimkehrenden Pendler rauschen auf der Strasse, die spielenden Kinder kreischen im Dorfbrunnen, ein Knabe rennt weinend nach Hause, die Nachbarskatze kehrt mit einer Maus vom Feld zurück, Nero taucht aus seinem kühlen Versteck auf, zwei Jugendliche plaudern auf ihren Mofas, Traktoren brausen übers Feld, zwei Nachbarn unterhalten sich über den Gartenzaun hinweg, ein Hund bellt in der Ferne, jenseits des Feldes meckern die Zwergziegen. Wer gab das Startzeichen? Wer war der erste, der den Bann durchbrochen hat?





Irgendwann werden die Schatten noch länger, die Geräusche verändern sich erneut: Es gibt Pausen im Brausen des Pendlerverkehrs - Lücken der Stille. In diesen immer häufiger und länger werdenden, ruhigen Momenten höre ich das Läuten der Kuhglocken vom gegenüberliegenden Hügel. Stimmen von fernen Nachbarn. Klappern und Scheppern von Geschirr und Besteck. Die Sonne nähert sich dem Waldrand und verzaubert die Welt mit ihrem golden glänzenden Schimmer.



Ich beginne wieder Farben zu sehen, Grün in allen möglichen Tönen und Intensitäten, eine Symphonie in Grün: Das Grün des Rasens im Garten unmittelbar vor mir, das satte Grün des hohen Grases auf der Wiese davor, das intensiv leuchtende am Wegrand, das ausgeblichene auf der kleinen Pferdekoppel, das gelbliche des vor kurzem gemähten Hangs, das hellere der abgegrasten Kuhweide, das bräunliche des brachliegenden Feldes, das fast schon schwarze Grün der Tannen im Wald, und dann noch die unterschiedlichen Grüntöne all der Bäume, Büsche und Pflanzen. Um mich herum ist eine unendliche Fülle an Grüntönen - ein Meer in Grün!




Ich könnte noch stundenlang hier sitzen und staunen, wie sich der Tag weiter verändert, wie die ersten lauen Luftzüge meine verschwitzte Haut streicheln, wie die zunehmende Dunkelheit von neuen, fremden Geräuschen erfüllt wird, wie wunderbare Düfte sich mit der Nachtluft vermischen. Ich könnte weiter den unberechenbaren Flug der Fledermäuse in der Dämmerung verfolgen und dem aufgehenden Mond zuschauen. Ich könnte den Lauten unbekannter Tiere zuhören, den Sprinkleranlagen der Heimgärtner, dem beruhigenden, ruhiger werdenden Klang der Kuhglocken, dem entfernten Rollen des Donners, dem Rascheln der Blätter im Nachtwind. Bis auch diese Laute wieder verstummen würden, um den Tönen des nächsten Tagesanbruchs zu weichen, bis sich die Dunkelheit der Nacht wieder lichten würde, um unmerklich, aber unaufhaltsam in einem neuen Morgen zu münden.


PS: Ich hatte gehofft, den Tag hinauszögern zu können, indem ich ihn jede Minute mit allen Sinnen wahrnehme und auskoste. Doch festhalten lässt sich die Zeit nicht, auch so nicht. Im Gegenteil, mir wurde erst recht bewusst, wie unaufhaltsam und schwindelerregend schnell die Zeit - die Stunden, die Tage, das Jahr - vergeht. Jede Minute ist einmalig, einzigartig und kehrt in dieser Kombination nicht wieder zurück. Doch auf jede vergangene Minute folgt eine weitere, neue, einmalige Minute voller Eindrücke, die darauf wartet, gesehen, gespürt, gerochen, gehört und gefühlt zu werden.