Montag, 18. Mai 2015

Ach, der Frühling

Endlich ist er da, der Frühling, sehnsüchtig erwartet, und dennoch überraschend und plötzlich.


Wie habe ich ihn vermisst, den Frühling! Die letzten Jahre ging er ständig unter, verdrängt vom Regen und der hartnäckigen Kälte von ewig sich hinziehenden Wintern, die dann direkt in den Hochsommer übergingen. Dieses Jahr aber erleben wir einen Frühling wie aus dem Bilderbuch: blühende Bäume in weiss und rosa, langsam aufgehende Knospen an Büschen und Zweigen, immer wieder wechselnder Blumenflor auf den Wiesen und aufgestelltes Vogelgezwitscher rundum.
Doch nun, wo der Himmel so intensiv blau und die Forsythien gelb leuchten, beschleichen mich Zweifel: Bin ich denn überhaupt bereit für diesen Frühling?

Schon am Morgen früh beim Aufstehen scheint die Sonne kraftvoll in die Küche hinein - so hell, dass sie mich blendet, so stark, dass es mir unangenehm ist. Sie leuchtet jeden noch so versteckten Winkel aus. Ich versuche mich an die Ängste und dunklen Gedanken der Nacht zu erinnern, aber sie entwischen mir, lösen sich auf im Moment, in dem ich sie greifen will. 
Ein Teil von mir sehnt sich zurück nach der Dunkelheit des Winters, in die ich mich bei Kerzenlicht, Tee und Kaminfeuer verkriechen konnte. Es fühlte sich wohlig und tröstlich an. Doch mit kuscheliger Gemütlichkeit und Rückzug ist es jetzt vorbei. Diese Frühlingssonne hat nichts Sanftes, sondern etwas Tyrannisches und Absolutes an sich. Sie lässt kein Verstecken zu, erlaubt kein Zaudern und Taktieren mehr. Es ist ihr egal, ob ich für den Neubeginn bereit bin oder nicht. Mit nonchalanter Unbekümmertheit stösst sie mich aus meinem Nest und lässt mich ausgestellt und schutzlos im Licht stehen.


Draussen erwartet mich ein märchenhafter Frühlingstag. Föhn und Bise wechseln sich ab und vertreiben jegliche Feuchtigkeit und Trübnis aus der Luft. Die Schneeberge sind zum Greifen nahe, ich kann in jedes Tal hineinsehen. Alles wirkt wie frisch gewaschen, wie neu - ist es ja auch. An Tagen wie diesen werden Postkarten gemacht. 




Es ist kühler, als es aussieht. Kopfwehwetter für Wetterfühlige wie mich. Ein kontemplativer Spaziergang wird das heute nicht. Zu sehr wirbeln meine Gedanken hin und her und stören meine innere Stille und Verbundenheit mit der Welt. Ich beschliesse, nachsichtig mit mir zu sein und nicht weiter gegen Unruhe und Zweifel anzukämpfen. Ich lasse sie einfach neben mir herwirbeln und versuche, nicht sonderlich auf sie einzugehen. Stattdessen richte ich meinen Blick immer wieder nach aussen auf diese Pracht, die sich mir präsentiert. Ich kann nur staunen: Heute hat die Natur ihr schönstes Festkleid angezogen! Vor allem die Farben fallen mir auf: Nie sind sie so rein und klar, hell und gleichzeitig so intensiv wie im Frühling.



Mit jedem Schritt beruhigen sich meine Gedanken. Mit der Zeit trotten sie einfach nur noch brummelnd neben mir her, und irgendwann sind sie ganz weg. Die Sonne macht es aus, dieser unglaubliche Frühlingstag. Mein Glückspegel steigt automatisch von Minute zu Minute. An so einem Tag haben dunkle Gedanken einfach keine Chance. Meine Mundwinkel zieht es automatisch nach oben, das Licht in meinem Innern beginnt zu leuchten im Einklang der Sonne am Himmel, und ein Lächeln zaubert sich wie von selbst auf meine Lippen. 



Ein Neuanfang, so zauberhaft er auch ist, löst immer auch Ängste und Stress aus. Jeder Neuanfang ist ein Sprung ins Unbekannte. Und wer springt schon gerne freiwillig ins Leere, ohne zu wissen, ob und wann er aufgefangen wird? Ich jedenfalls nicht. Ich klammere mich auch lieber am Altbekannten fest. Doch das Leben nimmt keine Rücksicht auf Befindlichkeiten, Wünsche und Pläne. Und so schubst es uns manchmal freundlich, manchmal unsanft, oder stösst uns bisweilen gar heftig und schmerzhaft ins Neue und Unerwartete hinein, ob es uns passt oder nicht. Doch vielleicht ist dies die einzige Möglichkeit, dass ein Frühling überhaupt zustande kommt.