Samstag, 28. Mai 2016

"Gschtört"

"Gschtört" - auf Schweizerdeutsch ein oft verwendetes Wort. Man kann es sowohl auf Dinge oder Situationen als auch auf Personen bezogen benutzen. Sagt man von einer Person, sie sei "gschtört", heisst das so viel wie: sie ist bescheuert, hat eine Macke, eine Meise, einen Dachschaden, hat einen an der Klatsche, einen Sprung in der Schüssel, eine Ecke ab, einen Flick weg, eine Schraube locker, einen Vogel, ist verrückt, spinnt, ist nicht ganz normal usw.
Erstaunlich, wie viele Synonyme es gibt, um unser Urteil über eine Person auszudrücken, die sich nicht so verhält, wie wir es erwarten.


Ein lauer Abend, ungezwungenes Beieinandersitzen unter Nachbarn, entspanntes Plaudern über dies und jenes. Im Laufe des Gesprächs kommen wir auf die neu zugezogene Nachbarin zu reden. Sie lebt zurückgezogen, macht ihr eigenes Ding und passt ebenso wenig ins Dorfbild wie ich. Irgendwann fällt dann leichtfertig der Spruch: "Die esch halt echli gschtört" - die ist eben ein bisschen verrückt.


"Mmh, verrückt... verrückt..." meint darauf mein Nachbar Rolf bedächtig "Ist denn nicht jeder irgendwie verrückt?"
In der Runde wird es lange still, nachdenklich, jeder überprüft das jetzt für sich. Wir kommen alle zum selben Schluss. Nach einer gewissen Zeit antwortet jemand "Ja, das stimmt". Eigentlich ist jeder irgendwie gschtört.




(Es ist derselbe Rolf vom Blogeintrag "Sehnsucht II")

Sonntag, 22. Mai 2016

Jahreszeiten

Gedankenkreisen treibt mich heute früh aus dem Bett, und gleich darauf die Lust, den frühen Sommertag zu geniessen. Gleich nach dem Frühstück ziehe ich los, so lange es noch ruhig ist und nicht zu heiss. Dieses Wochenende gibt's einen ersten Vorgeschmack auf den Sommer. Also nutze ich die frühe Morgenstunde, um raus in die Natur zu gehen, bevor Wandergruppen, Paarläufer, Hündeler und Sportler auf die Feld- und Waldwege strömen.


Im Moment teile ich die ganze Pracht um mich herum nur mit ein paar Tieren: Gleich aus dem Haus die Katze, die dem betagten Nachbarn um die Beine streicht, in ein stilles Zwiegespräch vertieft, das nur die beiden verstehen. Auf dem Feld das alte Islandpony, das an die Stallmauer lehnt und die warmen Sonnenstrahlen geniesst. Am Hang, fast schon beim Waldrand oben, drei junge Kühe auf der Weide, die mich ängstlich und interessiert zugleich beäugen. Und oben, auf dem Pfad am Waldrand, eine grosse Weinbergschnecke, die ihre Schleimspur quer über meinen Weg zieht. Und dann am Waldrand, nach den ersten Bäumen, unterschiedlich bunte Käfer, die lustig herumfliegen - einer landet auf der Jacke, die ich um meine Taille gebunden habe. Bevor ich seine Farbe, zwischen weinrot und rostbraun, fertig bewundern kann, hebt er auch schon wieder ab.


Die Gedanken kreisen weiter. Doch das Wetter ist heute zu schön, um darüber trübsinnig oder ärgerlich zu werden. Die Gedanken sind heute halt einfach da und benötigen anscheinend meine Aufmerksamkeit. Ich lasse es zu und geniesse die Natur um mich herum trotzdem, so gut es eben geht.

Es sind Gedanken zum Wetter, wie es meine Stimmung beeinflusst, und zu den Jahreszeiten, wie sie mit dem Leben korrelieren. Pünktlich zu meinem 50. Geburtstag ist mir nämlich bewusst geworden, dass ich in den Herbst meines Lebens eingetreten bin. Was nicht heisst, dass ich den Frühling und die damit verbundene Aufbruchstimmung nicht geniesse. Aber mein Grundgefühl ist, dass für mich die Zeit des Älterwerdens, des Zurücktretens vor den jüngeren Generationen und vielleicht auch ein bisschen der Reife begonnen hat.


Jede Jahreszeit hat ihre Bedeutung, ihr Grundgefühl, ihren Sinn. Der Frühling ist für mich die Zeit des Aufbruchs, des Aufbaus, der Kraft und Energie, des Entdeckens, Ausprobierens und der Expansion. Der Sommer ist geprägt von Fülle, Üppigkeit und Genuss. Im Herbst kommt dann die Zeit, die Ernte einzufahren, die Vorräte aufzufüllen. Es ist die Zeit der letzten goldenen, warmen und wunderschön bunten Tage, aber auch die der ersten Kälteeinbrüche. Im Winter dann wird es dunkel, kalt und still. Es ist die Zeit des Rückzugs ins gemütliche Heim, für den, der kann.


Bei meinen Spaziergängen in Weisslingen, im Wald und entlang der Felder, erlebe ich die Jahreszeiten in der Natur unmittelbar mit, fotografiere sie oft, bestaune sie und spüre immer wieder, wie eng auch ich mit ihnen verbunden bin.

Auch im Wald kommt die neue Jahreszeit nicht von einem Tag auf den anderen, sondern kündigt sich mit unscheinbaren Zeichen lange im Voraus an, schon viel früher als vom Kalender festgelegt. Irgendwann sind dann die Zeichen so offensichtlich und unübersehbar, dass wir feststellen: Jetzt ist sie da, die neue Jahreszeit! In Wahrheit hat sie aber schon viel früher begonnen.

Genauso ist mir klar geworden, dass ich unwiderruflich älter geworden und in meinen dritten Lebensabschnitt getreten bin. Zufälligerweise passierte das um meinen 50. Geburtstag herum, sogar fast aufs Loch genau (wie wir Schweizer sagen). Ich erinnere mich noch an den unsicheren Blick des jungen Arztes, den ich im ersten Moment nicht deuten konnte. Ich hatte ihn gefragt, woher diese Fussschmerzen kommen könnten und widersprach all seinen möglichen Erklärungen, bis er dann damit herausrückte, dass es wahrscheinlich gar keinen bestimmten Grund gäbe, sondern dass es ganz einfach Verschleisserscheinungen sind, die mit dem Alter kommen. Im ersten Moment war ich perplex, "Alter"? Jetzt wusste ich die Unsicherheit in seinen Augen richtig zu interpretieren, verkniff mir ein Grinsen und schluckte innerlich. Da war er also, der Punkt, an dem die Zeichen unübersehbar geworden sind und meinen Eintritt in den Herbst meines Lebens markiert hat. Das war ungefähr einen Monat vor meinem Geburtstag.


Ich stelle also fest, dass ich irgendwann meinen Zenit überschritten habe, wenn man das Leben als Rad betrachtet. Nun ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen, mich abzufinden mit verpassten Chancen und glücklich zu sein über die genutzten. Es ist Zeit, definitiv Abschied zu nehmen von den Träumen, die sich wohl nicht mehr erfüllen werden, mich mit dem Unabänderlichen zu versöhnen, und zu hoffen, dass mir noch genügend Zeit bleibt, um das Wesentliche und die schönen Momente zu geniessen. Und es ist Zeit, mir noch die Wünsche zu erfüllen, die sich noch erfüllen lassen, im Wissen, dass meine Zeit endlich ist.


Solchen Gedanken hänge ich nach, als ich zuoberst im Wald bin. Da schaue ich kurz auf und sehe über mir die hell erleuchteten Wipfel der hohen Bäume, die den Weg säumen, wie Säulen einer lichtdurchfluteten Kathedrale. Und ich nehme die unterschiedlichsten Vogelstimmen wahr, die mit ihrem vollen, melodiösen Gesang diesen Raum füllen. Mit einem Mal spüre ich Weite und Zeitlosigkeit - eine Art Unendlichkeit in Zeit und Raum, in der auch mein kleines, unscheinbares Leben seinen Platz und seine Bedeutung hat. In diesem Moment fühle mich getragen und gehalten von einer Dimension, die alles übersteigt und alles umfasst.
Vielleicht gehört auch das zum Älterwerden.



Die Kamera habe ich an diesem Sonntagmorgen nicht mitgenommen. Die Fotos hier stammen von einem anderen schönen Spaziergang rund um den Pfäffikersee, vorletztes Wochenende, als der Frühling auf seinem Höhepunkt war.