Montag, 7. November 2016

Spaziergang in Weisslingen - Herbst

“Was ist heute bloss los mit mir? Schon nach wenigen Schritten komme ich ins Keuchen und Schwitzen, dabei geht es noch nicht einmal richtig bergauf. Ich bin diesen Weg doch schon hundertmal gegangen, mühelos, bin ich etwa krank? Oder macht mir die Sonne zu schaffen, die heute plötzlich den Nebel verdrängt hat, unerwartet und ungewohnt warm. Vielleicht bin ich auch einfach nicht fit genug? Ich sollte häufiger spazieren gehen, vielleicht sogar wieder ein bisschen joggen... Überhaupt sollte ich mehr Sport treiben… Anderseits sollte ich auch mehr ausruhen, einfach nichts tun, mit Nero auf dem Sofa liegen und einfach nur aus dem Fenster schauen... Ich sollte mich sowieso mehr dem Kater widmen, der ist ja immer alleine und wird auch nicht jünger... Vielleicht sollte ich auch wieder einmal etwas für meine persönliche Weiterentwicklung tun. Und das Soziale mehr pflegen, klar. Harfe üben sollte ich auch wieder häufiger, ein bisschen mehr Disziplin diesbezüglich würde viel bringen. Gut, dass ich die Kamera dabei habe, immerhin das. Anschliessend sollte ich die Fotos aber auch gleich runterladen und bearbeiten, sonst... Auch wegen des Gewichts wäre es übrigens gut, häufiger spazieren zu gehen, immer wenn ich frei habe eine Runde, vielleicht grad als erstes am Morgen. Dann Harfe üben. Dann der Rest. Sollte ich. Ich sollte, ich sollte, ich sollte.”


So marschiere ich durch diesen Herbstnachmittag, unruhig, angespannt und gehetzt. Meine Gedanken jagen einander, jagen mich, und ich schaffe es heute nicht, sie zur Ruhe zu bringen. Dann fällt mein Blick auf den Weiher weiter unten auf der anderen Seite der Strasse, und auf die Bäume in den herbstlichen Farben. Das Wetter ist zwar nicht so klar, aber vielleicht hat es trotzdem Spiegelungen im Wasser? Ich nehme die Direttissima über den Acker bis hinunter an die Kantonsstrasse, warte auf eine Lücke im Verkehr, überquere sie und bin nach wenigen Schritten am Brauiweiher.


Tatsächlich, da sind sie, die Spiegelungen, auf die ich spekuliert hatte. Schon an der ersten Bucht, die mir freie Sicht aufs Wasser ermöglicht, sehe ich sie. Sie sind nicht so farbenprächtig wie letztes Jahr, dafür zarter, verträumter, romantischer vielleicht. Ich beginne zu fotografieren.


Dann gehe ich weiter zur nächsten Bucht, wo ich neue Spiegelungen entdecke, die mich fesseln. Ich fotografiere weiter. Stück um Stück umrunde ich so langsam den Weiher, nehme mir an jeder Bucht Zeit zu schauen, Spiegelungen zu entdecken und zu fotografieren. Die Gedanken sind wie weggeblasen, die innere Unruhe und die Erschöpfung auch.


Bis ich ans Ende des Uferwegs komme, bin ich ziemlich durchfroren, denn diese Seite des Tales liegt bereits im Schatten. Ich kämpfe mich durch Matsch, Schilf und Gestrüpp, überquere erneut die Strasse und wandere - jetzt wieder mühelos und leicht - den gegenüberliegenden Hang hoch, wo ich mich auf meine Lieblingsbank am Waldrand setzte und mich von der Sonne aufwärmen lasse. Ich schaue in die Weite. Mein Kopf ist wohltuend leer und still.





Mit einem Mal kommen Windböen auf, wie aus dem Nichts. Ich erschrecke über laute Geräusche hinter mir im Wald: es tönt wie Regen, wie die ersten grossen Regentropfen eines Platzregens - plopp plopp plopp. Aber es ist kein Regen, es sind die vielen Blätter, die jetzt von den Bäumen fallen - plopp plopp plopp.


Ich mache mich auf den Heimweg. Vor der grossen Pappel bleibe ich stehen. Die kleinen Blätter tanzen wild und rascheln im Wind wie Kastagnetten, die Rückseiten glänzen silbern im Abendlicht. Der Wind wird stärker und kälter, ich gehe rasch weiter. Der Himmel ist voller goldener Buchenblätter, die verspielt durch die Luft wirbeln. Dazwischen segeln vereinzelt grosse, dürre Ahornblätter auf die Wiese und auch auf mich. Der Blätterregen bringt mich zum Lachen, auch der dichte Laubteppich auf dem Pfad, der meine Schritte weich abfedert.


Die Bise weht immer kräftiger, meine Schritte werden schneller. Die "Ich sollte"-Gedanken von vorhin kommen mir wieder in den Sinn. Doch jetzt es sind bloss noch zwei Worte. So sehr ich mich auch anstrenge, die Fortsetzung des Satzes bleibt aus. Ich erinnere mich nicht mehr, was ich alles unbedingt und so dringend noch machen sollte. “Ich sollte, ich sollte, ich sollte” skandiere ich nun lächelnd im Takt meiner Schritte. Die drei Silben bilden die Marschmusik, die meinen Trab durch den Wald begleitet. Wie Tambouren feuern sie rhythmisch meinen Lauf an, "ichsollteichsollteichsollte", bis ich im Windschatten der ersten Häuser angekommen bin.


Fast schon zu Hause sehe ich vor dem Haus einer älteren Nachbarin einen Kombi mit Umzugskartons stehen. Ich warte, bis jemand aus der Türe rauskommt, und frage, ob Anne-Rose auszieht. Sie hatte letztes Jahr mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, schien sich aber gut erholt zu haben, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. “Sie ist nicht mehr gut auf den Beinen, das kam ganz plötzlich”, erzählt mir ihr Schwiegersohn. “Und da gerade eine Wohnung im Alterswohnheim freigeworden ist, hat sie sich entschieden, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, umzuziehen.” Ich bin betroffen, lasse Grüsse ausrichten und nehme mir vor, sie nächstens dort besuchen zu gehen (ich sollte, ich sollte).



Dann habe ich mich für einen Achtsamkeits-Workshop angemeldet, mein Interesse an einem Lesezirkel bestätigt, der gerade am Entstehen ist, ein Trampolin zum Testen bestellt, eine Freundin aus meiner Kindheit angeschrieben, die ich übers Internet wiedergefunden habe. Und den Rest des Abends verbringe ich mit Nero und einem guten Buch gemütlich und genussvoll auf dem Sofa.