Montag, 18. Mai 2015

Ach, der Frühling

Endlich ist er da, der Frühling, sehnsüchtig erwartet, und dennoch überraschend und plötzlich.


Wie habe ich ihn vermisst, den Frühling! Die letzten Jahre ging er ständig unter, verdrängt vom Regen und der hartnäckigen Kälte von ewig sich hinziehenden Wintern, die dann direkt in den Hochsommer übergingen. Dieses Jahr aber erleben wir einen Frühling wie aus dem Bilderbuch: blühende Bäume in weiss und rosa, langsam aufgehende Knospen an Büschen und Zweigen, immer wieder wechselnder Blumenflor auf den Wiesen und aufgestelltes Vogelgezwitscher rundum.
Doch nun, wo der Himmel so intensiv blau und die Forsythien gelb leuchten, beschleichen mich Zweifel: Bin ich denn überhaupt bereit für diesen Frühling?

Schon am Morgen früh beim Aufstehen scheint die Sonne kraftvoll in die Küche hinein - so hell, dass sie mich blendet, so stark, dass es mir unangenehm ist. Sie leuchtet jeden noch so versteckten Winkel aus. Ich versuche mich an die Ängste und dunklen Gedanken der Nacht zu erinnern, aber sie entwischen mir, lösen sich auf im Moment, in dem ich sie greifen will. 
Ein Teil von mir sehnt sich zurück nach der Dunkelheit des Winters, in die ich mich bei Kerzenlicht, Tee und Kaminfeuer verkriechen konnte. Es fühlte sich wohlig und tröstlich an. Doch mit kuscheliger Gemütlichkeit und Rückzug ist es jetzt vorbei. Diese Frühlingssonne hat nichts Sanftes, sondern etwas Tyrannisches und Absolutes an sich. Sie lässt kein Verstecken zu, erlaubt kein Zaudern und Taktieren mehr. Es ist ihr egal, ob ich für den Neubeginn bereit bin oder nicht. Mit nonchalanter Unbekümmertheit stösst sie mich aus meinem Nest und lässt mich ausgestellt und schutzlos im Licht stehen.


Draussen erwartet mich ein märchenhafter Frühlingstag. Föhn und Bise wechseln sich ab und vertreiben jegliche Feuchtigkeit und Trübnis aus der Luft. Die Schneeberge sind zum Greifen nahe, ich kann in jedes Tal hineinsehen. Alles wirkt wie frisch gewaschen, wie neu - ist es ja auch. An Tagen wie diesen werden Postkarten gemacht. 




Es ist kühler, als es aussieht. Kopfwehwetter für Wetterfühlige wie mich. Ein kontemplativer Spaziergang wird das heute nicht. Zu sehr wirbeln meine Gedanken hin und her und stören meine innere Stille und Verbundenheit mit der Welt. Ich beschliesse, nachsichtig mit mir zu sein und nicht weiter gegen Unruhe und Zweifel anzukämpfen. Ich lasse sie einfach neben mir herwirbeln und versuche, nicht sonderlich auf sie einzugehen. Stattdessen richte ich meinen Blick immer wieder nach aussen auf diese Pracht, die sich mir präsentiert. Ich kann nur staunen: Heute hat die Natur ihr schönstes Festkleid angezogen! Vor allem die Farben fallen mir auf: Nie sind sie so rein und klar, hell und gleichzeitig so intensiv wie im Frühling.



Mit jedem Schritt beruhigen sich meine Gedanken. Mit der Zeit trotten sie einfach nur noch brummelnd neben mir her, und irgendwann sind sie ganz weg. Die Sonne macht es aus, dieser unglaubliche Frühlingstag. Mein Glückspegel steigt automatisch von Minute zu Minute. An so einem Tag haben dunkle Gedanken einfach keine Chance. Meine Mundwinkel zieht es automatisch nach oben, das Licht in meinem Innern beginnt zu leuchten im Einklang der Sonne am Himmel, und ein Lächeln zaubert sich wie von selbst auf meine Lippen. 



Ein Neuanfang, so zauberhaft er auch ist, löst immer auch Ängste und Stress aus. Jeder Neuanfang ist ein Sprung ins Unbekannte. Und wer springt schon gerne freiwillig ins Leere, ohne zu wissen, ob und wann er aufgefangen wird? Ich jedenfalls nicht. Ich klammere mich auch lieber am Altbekannten fest. Doch das Leben nimmt keine Rücksicht auf Befindlichkeiten, Wünsche und Pläne. Und so schubst es uns manchmal freundlich, manchmal unsanft, oder stösst uns bisweilen gar heftig und schmerzhaft ins Neue und Unerwartete hinein, ob es uns passt oder nicht. Doch vielleicht ist dies die einzige Möglichkeit, dass ein Frühling überhaupt zustande kommt. 

Montag, 13. April 2015

Ostersonntag am Greifensee


Die Ostertage verbringe ich mit dem Fotokünstler. Obwohl ich mich sehr auf seinen Besuch freue, sehne ich mich auch nach Ruhe und Erholung. Ich fühle mich ausgelaugt und erschöpft: Frühlingsmüdigkeit? das Wetter? Stress bei der Arbeit? das Alter? die Zeitumstellung? Wahrscheinlich all das zusammen und noch einiges mehr.



Am frühen Ostersonntag fahren wir nach Greifensee, wie vorletztes Jahr schon. Wie damals ist es auch heute kalt, grau und windig. Sonne und dunkle Wolken jagen einander, ein bissiger Wind peitscht das Wasser auf und bläst durch sämtliche Kleidungsschichten. Richtiges Aprilwetter. Später höre ich jemanden rufen: "es schneit!" Ich schaue hoch, erstaunt: Tatsächlich. Mittlerweile hat der Schnee jedoch seine fröhliche Sanftheit eingebüsst. Wie spitze Geschosse fällt er jetzt in kleinen, eisigen Flocken vom grauen Himmel. Richtig freuen tut sich darüber keiner mehr.


Heute zieht es mich zum Ungeordneten, Chaotischen, Rauen hin. Ich erkenne es überall. Es entspricht dem Wetter, und es entspricht meiner Stimmung: unruhig, unfreundlich, fad - "edgy", wie die Amerikaner sagen. Wenn ich mich so fühle, sollte nicht unter Menschen gehen. Ich sollte mich zurückziehen, bis meine Gedanken und Gefühle zur Ruhe gekommen sind, sich die innere Anspannung gelöst hat und ich wieder in meinem Gleichgewicht bin. Doch nun bin ich hier.



Alles ist am Seeufer versammelt, wo es auch uns hinzieht. Unter den Wasservögeln, die sich in Ufernähe versammelt haben, geht es wild zu und her. Da wird gebalzt und gekämpft, gestritten um Revier und Brotbrocken. Ich scheine also nicht die einzige zu sein, die unter Spannung steht. Irgendwie beruhigt mich das. Vielleicht ist es ja doch nur die Jahreszeit.



Inmitten dieser ganzen Unruhe steht majestätisch ein Schwan. Er ist der einzige, der alleine da ist, alle anderen sind in Paaren oder Gruppen. Unberührt und unbeeindruckt steht er am Ufer und putzt sich gelassen das strahlend weisse Gefieder, als ob ihn der ganze Trubel nichts anginge. Und als er fertig ist, lässt er sich lautlos ins Wasser gleiten und segelt ruhig und erhaben davon.



Am Ufer spielen ein paar Kinder. Auch sie betrachten das hektische Treiben der Enten und Blässhühner und bewundern aus respektvollem Abstand den Auftritt des Schwans. Ich beobachte sie, doch sie bemerken mich nicht. Sie sind völlig vertieft im Moment und in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt. Nur die Tiere und das Wasser zählen. Sie scheinen die Kälte nicht zu spüren und stören sich nicht am wechselhaften Aprilwetter. Auch so kann man also mit dem Wetter umgehen: es zur Kenntnis nehmen, ohne ihm viel Gewicht beizumessen.
Ich schaue fasziniert zu, wie sie so im Augenblick versunken sind, dass sie alles rundherum vergessen. Ich weiss, dass es Zeiten gibt, da auch mir das gelingt. Im Moment ist mir das kein Trost. Doch vielleicht sollte ich dem auch kein grosses Gewicht beimessen?


Wir spazieren weiter dem Seeufer entlang. Nach wenigen Schritten finden wir eine Landzunge, versteckt zwischen Bäumen und Schilf. Der Fotokünstler fotografiert weiter drüben auf dem Bootssteg. Ich stehe einfach nur still da in der Geborgenheit meines Verstecks. Ich bemerke, wie sich die innere Anspannung langsam zu lösen beginnt. Ich werde ruhiger, entspannter. Mein Körper, meine Gedanken und meine Gefühlen scheinen sich zu synchronisieren und wieder eins zu werden. Wie durch Zauberhand - oder vielleicht durch das Fotografieren, die Natur, das Beobachten der Vögel und der Kinder? Wer weiss, vielleicht sind es ja doch die kleinen Dinge, die unbemerkt die grösseren Veränderungen herbeiführen.


Jetzt erst kann ich mich wieder öffnen und zunehmend einlassen auf die Welt, die mich umgibt. Ich spüre, wie weich der Boden unter meinen Füssen ist, und wie frisch sich die Luft auf meiner Haut anfühlt. Die kühle Temperatur stört mich jetzt nicht mehr. Und in dieser Ruhe beginne ich wieder, die Welt um mich herum frisch und direkt wahrzunehmen.



Ohne mich von der Stelle zu bewegen, kommen nun die Motive auf mich zu: Das Schilf, das sich im Wasser spiegelt - wo hört es auf, und wo beginnt seine Spiegelung? Die intensiven Veränderungen der Farben im rasch wechselnden Licht des Aprilwetters. Die sich kräuselnde Wasseroberfläche im Wind. Das intensive Grün des bemoosten Baumstamms. Die tief zerfurchte Rinde, die mich an Haut im Alter erinnert. Ich kann ihre raue Oberfläche mit den Augen spüren.


Fasziniert schaue ich dem Treibgut zu, das sich in den Wellen hin und her bewegt, und nach längerem Beobachten erkenne ich plötzlich eine Ordnung im Chaos, sehe Muster im Zufälligen und bin berührt von der Schönheit des Unscheinbaren.


Und ab und zu schwimmt eine Ente oder ein Blässhuhn vorbei, auf mich zu, hält inne, und wir schauen uns neugierig und furchtlos in die Augen.


Donnerstag, 5. März 2015

Trotz Schnee und Grippewelle

Trotz Schnee und Grippewelle hat der Frühling seine ersten Pflöcke bereits eingeschlagen. Natürlich kommt er nicht unerwartet, auch nicht plötzlich. Und doch erlebe ich die Veränderungen, die er mit sich bringt, als eine Reihe wundervoller, kleiner Überraschungen, die mich berühren und mein Glücksgefühl nähren.


Vielleicht beginnt es damit, dass ich eines Abends das Büro verlasse und irritiert bin, weil etwas anders ist also sonst. Die gewohnte Dunkelheit, die mich sonst am Ausgang empfängt, fehlt. Ich schaue zum Himmel: tatsächlich, er ist noch hell. Ein Kontrollblick auf die Uhr zeigt, dass ich mich nicht in der Zeit vertan habe. Die Uhrzeit ist dieselbe, aber die Tage sind länger geworden.



Heute morgen wurde ich vom melodiösen Gesang einer Amsel geweckt, zum ersten Mal seit langem wieder. Ich lausche der flötenden Melodie, die lieblich und kraftvoll zugleich ist. Ein Blick zum Fenster und ein zweiter auf den Wecker beruhigen meine Zweifel: Nein, ich habe nicht verschlafen, draussen ist immer noch dunkle Nacht, und Zeit zum Aufstehen ist auch noch nicht. Ich kuschle mich also noch etwas unter die Decke und geniesse für eine Weile diese sanften, morgendlichen Klänge, die mich ab jetzt für viele Monate beim Aufstehen begleiten werden.



Auf dem Weg zum Bus halte ich immer noch den Blick auf den Boden gerichtet, als liessen Kälte und Dunkelheit sich so überlisten. Dabei fallen mir zunehmend neue Turnschuhe an den Füssen von Jugendlichen auf. Sie haben ungewohnte, intensiv leuchtende Farben - Pink-Rot, Grasgrün und sattes Himmelblau mit knallgelben Sohlen. Wie bunte Kunstblumen durchbrechen sie das Einheitsdunkel der übrigen Winterschuhe und künden fröhlich-keck den Frühling an. Später erkenne ich sie in den Schaufenstern wieder als neue Frühlingskollektion des trendigen Sportschuhherstellers. Sie tragen energiegeladene, verheissungsvolle Namen wie "electric green", "hot lava" und "fireberry pink".



Unterwegs zur Bushaltestelle spielt es heute keine Rolle, dass ich die Handschuhe vergessen habe. Ich spüre, dass die Kälte jetzt sanfter und erträglicher geworden ist. Die Kapuze meiner Windjacke ziehe ich zwar noch hoch, aber mehr aus Gewohnheit als zum Schutz vor Minus-Temperaturen.
Die Schneeberge, die der Winterdienst am Strassenrand hinterlassen hat, werden immer schmutziger. Unter die nassen Schneeflocken mischt sich jetzt häufig auch Regen, der den Schnee schneller schmelzen lässt als die Sonne. Grüne Löcher entstehen in der weissen Schneedecke auf den Feldern, und sie werden immer zahlreicher und grösser. 


Die Sonne scheint nun schon überraschend kraftvoll und stark. Nur im Unterhemd bekleidet sitze ich an der Hauswand, wende mein Gesicht dem Licht zu und lasse mich mich von den Strahlen wärmen. In meinem Kopf höre ich die Stimme meiner Mutter, die mich vor der heimtückischen Verführung der ersten Sonnenstrahlen warnt. Auch das gehört zum Frühling. Ich schliesse die Augen, geniesse die Wärme und lausche dem munteren Gezwitscher der Vögel in den Bäumen.


Die Zeichen, welche die schöne Jahreshälfte ankündigen, mehren sich: Im kleinen Lebensmittelladen verkaufen sie Tulpensträusse, und in der Gemüseecke liegen Zucchini und Kohlraben zwischen den Kisten mit Kohl und Lagergemüse. Sicher dauert's auch nicht mehr lange, bis die ersten Spargeln angeboten werden, zusammen mit den Erdbeeren aus Spanien. Am Fenster flitzen die ersten Jogger in ergonomischen, bunten Anzügen vorbei, und an geschützten Stellen blühen Schneeglöckchen. Die Verkäuferinnen in den Kleidergeschäften ersetzen das monotone Schwarz durch monotone Pastellfarben, Schokoladehasen versprechen frühe Ostern und bald schon werden wir uns wieder über die Zeitumstellung ärgern. Die Nachrichten werden von hohen Wasserständen und Überschwemmungen berichten, die das viele Schmelzwasser verursacht, und Bilder zeigen von Ausflüglern an den ersten warmen Sonntagen. Ackerfrüchte werden hochschiessen, Primeln die Wiesen bedecken und weisse Plastikmöbel im Garten verteilt. Und bald wird der Winter nur noch als vage Erinnerung an eine entfernte Vergangenheit existieren.


Noch ist es zwar nicht ganz so weit, doch wir sehen schon das Licht am Ende des Tunnels und wissen, dass wir auch diesen Winter überstanden haben. Eine Zeit lang werden wir uns noch ein bisschen nackt vorkommen ohne unsere dicken, schützenden Kleider, uns etwas unsicher fühlen in all dem hellen Licht. Zu Beginn werden wir die Dunkelheit noch vermissen, in die wir uns bei Tee und Kerzenlicht gemütlich eingekuschelt und verkrochen haben. Doch schnell werden wir uns wieder umgewöhnen, uns darüber freuen und erleichtert sein, dass die kalte Jahreszeit vorbei ist.

Sonntag, 15. Februar 2015

Spaziergang in Weisslingen - Neuschnee

Bei Neuschnee ist es in Weisslingen am schönsten. Kaum ausserhalb des Dorfes wird kein Weg mehr gepfadet. Auf den Feldern und im Wald bleibt der Schnee deshalb so liegen, wie er fällt, pudrig und tief. Nur wenige mögen es, bei solchen Verhältnissen spazieren zu gehen. Mich hingegen zieht es gerade jetzt raus in die Natur. Ausgerüstet mit warmen Winterwanderstiefeln und eingepackt in meiner dicken Windjacke marschiere ich also drauflos, um die vom Schnee verzauberte Landschaft neu zu entdecken.


Die Sonne scheint zwar heute nicht, aber der Schnee hat die Felder in weite, gleissend helle Flächen verwandelt, auf denen ich keine Strukturen mehr erkennen kann. Die Helligkeit blendet meine Augen. Doch nach Tagen, ja Wochen voller Grau, Dunkelheit und Bildschirmarbeit, in staubigen Räumen mit trockener Luft und Kunstlicht empfinde ich diese Frische und Fülle an Licht als ungemein wohltuend.

Ich spüre, wie das Profil meiner Stiefel im trockenen Neuschnee greift und lausche dem leisen Knirschen unter meinen Tritten. Sonst kein Laut - Stille. Die Menschen schlafen noch, geniessen ihre warmen Stuben. Im Wald fällt mir das  fröhliche Vogelgezwitscher auf - es scheint so gar nicht recht hierher zu passen. Die Vögel pfeifen emsig, als ob sie der viele Schnee nichts angehen und auch nicht im geringsten stören würde. Ihr fröhlicher Gesang kündet vom Frühling. Daran erkenne ich, dass der Winter, trotz des vielen Neuschnees, seinem Ende zugeht. Schade eigentlich...



Vor mir Spuren von Mensch und Tier: Ein Mann mit seinem Hund ist hier schon durchgegangen. Sonst ist der Schnee noch unbefleckt und unberührt. Ich habe Hemmungen, auf diese wunderschöne, reine Schneedecke zu treten und sie durch meine Tritte zu versehren. Immer wieder kreuzen Spuren von Wildtieren meinen Weg: ein Hase? ein Fuchs? ein Reh? Ich gestehe mir ein, dass ich keine Ahnung habe. Ich versuche zu erkennen, woher das Tier gekommen, wohin es gegangen ist, und ob es vielleicht noch in der Nähe ist. Doch so sehr ich auch ins Dickicht starre, ich kann nichts erkennen.


Ich gehe auf weiter, tiefer in den Wald hinein. Den Weg selber erkenne ich kaum, ich kann ihn nur dort vermuten, wo jetzt ein breites Schneeband den Wald durchschneidet und wo die Spuren meiner Vorgänger mich hinführen. Nun macht der Weg eine Kurve, doch die Mann-Hund-Spuren führen geradeaus in den Wald hinein. Soll ich... oder lieber nicht? Nach kurzem Zögern lasse ich mich aufs Abenteuer ein und folge den Spuren ins Unterholz. Sie führen mich entlang eines gurgelnden Bachs, der mir vorher gar nie aufgefallen war. Nach ein paar Schritten habe ich das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein. Mein Herz geht auf beim Anblick dieses verschneiten Märchenwalds. Es ist wunderschön! Rund um mich verschneite Tännchen, schneebedeckte Bäume und ein kleiner Wasserfall. Die Äste sind dick mit Schnee bepackt, darunter leuchten Moos und Flechten bereits kräftig grün und gelb. Ich beobachte eine Weile das Spiel der Tropfen, die von den schmelzenden Eiszapfen ins Wasser fallen.  Dann gehe ich weiter. Nachdem ich über zwei liegengebliebene Baumstämme geklettert bin, komme ich wieder auf den Hauptweg zurück. Wäre der Schnee und die Spuren vor mir nicht gewesen, hätte ich diesen Pfad nie entdeckt.


Es zieht mich zum Weiher. Ich war schon lange nicht mehr hier - wer weiss, was mich heute erwartet? Tatsächlich haben Eis und Schnee auch hier Kunstvolles erschaffen: Die schneebedeckten Schilfbüschel sehen aus wie Champignons, und Schmelzwasserrinnen bilden wundersame Muster und Formen auf der vereisten Wasseroberfläche. Das vom Schnee reflektierte Licht bringt die Farben wieder hervor, die im düsteren Hochnebelgrau verschwunden waren: blau, braun, grün - zart und kräftig zugleich. Auf dem hellen Hintergrund sehen die Konturen von Büschen und Bäumen wie filigrane, präzis geschnittene Scherenschnitte aus.


Meine Augen können sich kaum satt sehen ob so viel Schönem. Ich weiss nicht, wieviel Zeit vergeht. Wenn ich so mit der Welt verschmelze, dauert der Augenblick ewig. Ich fühle mich ganz und erfüllt, ehrfürchtig und dankbar.



Schliesslich werden die Finger trotz Handschuhe ein wenig klamm und es beginnt mich zu frösteln. Zeit, den Heimweg über die Felder anzutreten. Keine Spuren hier, die mir den Weg weisen. Munter marschiere drauflos, ganz erstaunt darüber, wie einfach es ist, sich zu verlaufen in einer Landschaft, in der keine Wege und Grenzen mehr erkennbar sind. Doch ich kenne die Richtung und stapfe beherzt quer über Felder und Weiden heimwärts. Es hat etwas ungemein Befreiendes, einfach so nach Lust und Laune durch die Welt zu spazieren, ohne sich an vorgegebene Wege halten zu müssen. Und es macht so Spass!


Mittlerweile zwitschern die Vögel nicht mehr so fröhlich. Sie hatten, wie wir alle, wohl nicht damit gerechnet, dass sich Schnee und Kälte so lange halten würden. Doch es schneit und schneit, immer wieder. Wir haben mittlerweile so viel Schnee wie schon lange nicht mehr. Die Automobilisten schimpfen, die Katze setzt keinen Schritt mehr vor die Türe - und ich freue mich schon auf meinen nächsten Spaziergang!

Sonntag, 8. Februar 2015

Spaziergang in Weisslingen - Geburtstag

Es schneit und es ist grau an meinem Geburtstag.



An meinem Geburtstag fühle mich etwas einsam. Es haben zwar viele an mich gedacht und tele-gratuliert - Telefon, Facebook, WhatsApp, SMS und Post sei Dank - aber keine(r) meiner Liebsten ist persönlich vor Ort. Der Fotokünstler sitzt gerade in Helsinki am Flughafen, meine Familie ist im Süden, meine Freunde sind entweder in den Skiferien, krank oder haben meinen Geburtstag schlicht vergessen. Sogar der Kater hat sicherheitshalber das Weite gesucht, erschreckt durch das Reissen und Rascheln von Geschenkpapier.



Etwas traurig mache ich mich also auf meinen Spaziergang. Beim Gehen stelle ich fest, dass diese Spaziergänge wie das Leben sind: mal schön, mal anstrengend, mal erlebe ich wunderbare Überraschungen, mal komme ich kaum vom Fleck, und egal wie Wetter und Umstände sind, bleibt einem am Schluss nichts anderes übrig als weiterzugehen, einen Schritt nach dem anderen. Und irgendwann ist man dann am Ziel. Nur dass es im Leben, wie ich langsam merke, kein Ziel gibt. Es geht einfach immer so weiter, mal rauf und mal runter.



Und während ich so vor mich hin philosophiere, stelle ich fest, dass ich die ganze Zeit  gar nichts von meiner Umgebung mitbekommen habe. In Gedanken versunken und gleichzeitig offen zu sein für meine Umwelt, geht nicht. Den Blick kann ich nur in eine Richtung lenken: nach aussen oder nach innen. Ich weiss, was mir besser tut, und ich weiss auch, was ich dafür tun muss.



Ich konzentriere mich also auf meine direkte Wahrnehmung, achte auf Geräusche und Gerüche. Ich spüre die frische, feuchte Luft auf meiner Haut und schaue dem Tanz der Schneeflocken zu, wie sie leicht und verspielt vom Himmel fallen. Für einen Moment wird es heller, und kurz drückt die Sonne zwischen den Wolken durch. Vorsichtig gehe ich weiter. Ich achte, wo ich die Füsse aufsetze, denn unter der dünnen Neuschneeschicht versteckt sich die feste, unregelmässige Eisschicht, die sich in den letzten Wochen gebildet hat.



Je mehr ich mich dem Wald nähere, desto tiefer wird der Schnee. Ich spüre, wie die angefrorene Oberfläche kurz Widerstand leistet, bevor sie unter meinem Gewicht knackend nachgibt, und wie sie mich manchmal gerade noch knapp hält. Ich betrachte das messerscharf gezeichnete Profil, das die Sohlen meiner Winterstiefel im Schnee hinterlassen - es sind die einzigen frischen Spuren weit und breit.



Meine direkten Sinneswahrnehmungen führen mich zurück zum jetzigen Moment und verbinden mich mit der Umgebung.



Es beginnt heftiger zu schneien, aber ich stelle fest, dass es gar nicht so schlimm ist. Der Schnee macht mir Spass. Er weckt mein inneres Kind, verzaubert die Umgebung, dämpft die Geräusche und bringt Licht in den trüben Tag. Kalt ist mir nicht, denn das Gehen im Schnee ist anstrengend. Der frisch gefallene Schnee hat wieder sämtliche Feldwege zugedeckt und die Landschaft in eine blendend weisse Ebene verwandelt. Ich kann nur vermuten, wo mein Weg durchgeht. Wenn ich auf ihm bin, fällt mir das Gehen leicht, doch kaum setze ich einen Schritt daneben, sinke ich ein bis zu den Waden. So stapfe ich über die Felder und komme mir vor wie Indiana Jones. Und unerschrocken wie dieser pfeife ich auf den schimpfenden Bauern und wähle die Direttissima: Ich weiss, wo mein Haus liegt, und diesem stapfe ich nun in Luftlinie geradeaus zu, querfeldein durch das weisse Schneefeld. Ich kenne das Ziel, ich kenne das Gelände, was also kann schon passieren?

Sonntag, 1. Februar 2015

Spaziergang in Weisslingen - Paarlauf

Als Single sollte man am Sonntag hier nicht spazierengehen. Ausser es macht einem wirklich gar nichts aus, dass man keine Familie, keine Kinder, ja nicht mal ein bis zwei Hunde als Begleitung hat. Denn der Sonntag ist hier definitiv Familientag beziehungsweise "Paartag".



Beim Spazierengehen begegnen mir vor allem Paare, konventionelle wohlverstanden, also Männlein und Weiblein meist mittleren bis gesetzteren Alters. Kinder wenige, Jugendliche gar keine. Wobei mir vor ein paar Wochen zum erstenmal einer begegnet ist, ein männlicher Jugendlicher, der ebenfalls alleine spazieren ging. Ich war völlig sprachlos und konnte meine erstaunten Augen von diesem wandelnden Jahrhundertereignis kaum abwenden. Vereinzelt habe ich auch schon eine junge Frau gesehen mit einem Hund, den sie kaum beachtet hat, so sehr war sie in ihr Handygespräch vertieft. Ich habe mir vorgestellt, dass sie von den Eltern zum Gassigehen geschickt wurde: "Nie tust du etwas im Haushalt! Immer muss ich...! Wenigstens mit dem Hund könntest du...!" Aber wer weiss das schon.



Gleichgeschlechtliche Paare sieht man hier ebenfalls kaum. Ab und zu eine Mutter mit Tochter beim Nordic Walken. Einmal kamen mir zwei jüngere Frauen entgegen, offensichtlich Freundinnen oder Schwestern, aber das waren Deutsche. Die sind mit dem Paarlauf-Ritus noch nicht vertraut und können sich deshalb leichter darüber hinwegsetzen. Zumindest anfangs. Denn Ausländer spazieren hier ebenso selten wie Jugendliche. In den letzten paar Jahren kann ich mich an genau zwei Begegnungen mit Ausländern erinnern: einmal eine deutsche Familie im Wald, die anscheinend frisch zugezogen war und ihr neues Umfeld auskundschaften wollte, und dann eine spanisch-amerikanische Familie in verschiedenen Kombinationen (Vater mit Tochter, ganze Familie mit englischsprachigem Besuch, Vater beim Joggen).



Homosexuelle Paare habe ich hier auch noch nie gesehen. Die wären in Weisslingen ja noch exotischer als Singles. Von letzteren gibt es in meiner näheren Umgebung mittlerweile doch immerhin schon drei, beziehungsweise vier, wenn man die Pferdefrau dazuzählt, die ihre Nachmittage und Abende immer hier im Stall verbringt. Würde man die verwitweten Betagten, die bereits mit einem Bein im Pflegeheim stehen, auch noch mitzählen, dann würde die Zahl natürlich sprunghaft ansteigen. Aber denen begegne ich auf meinen Spaziergängen erst recht nie. Als ex-Paarläufer wollen sie möglicherweise nicht jetzt noch im hohen Alter mit einer neuen Gewohnheit beginnen.



Tja, auf dem Land hat alles noch seine Ordnung. Deshalb gehe ich am Sonntag am liebsten gleich nach dem Frühstück spazieren, denn da habe ich die Natur noch für mich. Bis die Paarläufer kommen, bin ich meist wieder zu Hause. Oder unter der Woche, da ist meist eh niemand unterwegs. Höchstens ein paar Hundehalter, doch die führen ihre Hunde mehr in den Niederungen der Felder und Weiden spazieren. Im Wald oben ist kaum jemand, nicht einmal Jogger oder Mountainbiker. Übrigens ist es sogar sonntags so, dass im Verhältnis zur Dorfbevölkerung nur ein minimaler Prozentsatz überhaupt spazieren geht, und davon schaffen es die wenigsten bis in den Wald. Was mir immer wieder Stoff zum Nachdenken gibt. Umso besser. Dann kann ich der Stille und dem Vogelgezwitscher in Ruhe lauschen.



Früher übrigens, da ging es am Weiher aber anscheinend noch ganz anders zu und her. Da war der Brauiweiher ein richtiger Hotspot und Weisslingen dafür bis über die Landesgrenzen hinaus berühmt oder berüchtigt (je nach Sichtweise). Da sind die Leute bis von Winterthur hergekommen, um hier zu baden und zu picknicken. Und auf der hinteren Uferseite wurde sogar nackt gebadet! Ja, es kommt noch krasser: Da entstand ein sogar international bekannter Treffpunkt für Schwule, die hier nackt gebadet, sich gesonnt und anschliessend im Wald gepaart haben. Da sei es nicht selten passiert, dass dir beim Spaziergang plötzlich ein Nackter auf dem Waldweg entgegengekommen ist. Oder dass beim beschaulichen Übers-Wasser-in-die-Ferne-Schauen plötzlich eine Frau demselbigen entstiegen ist und zwar im Evakostüm, wie Gott sie erschaffen hat - wie Ursula Andress im James-Bond-Film also, nur ohne Bikini. Ja, das erzählt man sich hier. Leider kenne ich diese wilden Wislinger Zeiten nur vom Hörensagen, denn unterdessen hat man die Nudisten vertrieben und die Schwulenszene verboten. Anscheinend den Kindern zuliebe. Jetzt begegnen einem im Wald weder Nudisten, noch Schwule und erst recht keine Kinder. Und im Brauiweiher vermehren sich nicht einmal mehr die Frösche, sondern nur noch Algen. Und statt Meerjungfrauen schwimmen darin nur noch die nie gefundenen Leichen der Selbstmörder.