Samstag, 5. Juni 2021

Aufbruch

Alles ist im Fluss, alles im Wandel. Sie spürt den Wind in den Haaren, als sie ihren Rucksack schultert. Er ist schwer und kompakt, aber tragbar. Sie hat alles, was sie braucht, eingepackt, sorgfältig und platzsparend, gut durchdacht und organisiert. Sie weiss, sie hat alles Nötige dabei, alles Überflüssige lässt sie zurück. Den Rest trägt sie im Herzen. 

Ein letzter Blick nach Süden über die Felder, zum Stall der Pferdefrau hin, die kurz vor ihr das Tal verlassen hat. Von da schweift ihr Blick nach rechts zum Ziegengehe, das nun ebenfalls verwaist ist. Sämtliche Geräusche sind verstummt, nur noch der Wind rauscht in den Bäumen. Sie schaut über das wogende Gras, das keiner mehr mäht, und über die ungepflügten Felder, die die Natur bereits zurückzuerobern beginnt. Kein Vogelgesang mehr, kein Wiehern, Muhen, Blöcken, Bellen, auch kein Flugzeugdröhnen und kein Autobrausen mehr. Nur noch das Rauschen des Windes. 

Sie zieht die Riemen der Schulterträger an, öffnet ein letztes Mal die Haustüre, tritt über die Schwelle und schliesst die Türe hinter sich, vorsichtig, um die Stille nicht zu erschrecken. Abschliessen muss sie nicht, den Schlüssel hat sie drinnen hängengelassen am Haken, wo er immer hing. Vielleicht wird ihn jemand anders brauchen, der hier irgendwann vorbeiziehen wird. Dann geht sie los in langsamen, gleichmässigen Schritten, über die leere Strasse nach Norden, entlang der überwucherten Beete der Gärtnerei in Richtung Weiher, wo dann der Weg abzweigt in den Wald hinein und hinab zu den grossen Seen. 

Ein letztes Zögern noch, ein letzter Blick zurück in die vertraute Landschaft. "Oh!" Weit hinten zwischen den Feldern entdeckt sie das schwarze Kätzchen, das die Pferdefrau zurückgelassen hat. "Es ist also noch da..." Aus der Ferne scheint es sie direkt anzustarren, und sie starrt zurück. Sie schauen sich gegenseitig an und verabschieden sich aus der Distanz. "Viel Glück", sagt sie leise, seufzt, dreht sich um und marschiert los.



Montag, 24. Mai 2021

Spaziergang in Weisslingen - Wandelzeit

Vor rund zehn Jahren bin ich nach Weisslingen gezogen. Eher zufällig hat es mich hierhergespült - so zumindest hatte es sich damals angefühlt. Ein Umzug ins Neuland war das, ein Neuanfang, ein Wagnis, auch das Ausleben eines Kindheitstraums. Und kurz darauf habe ich begonnen, diesen Blog zu führen.

Ein Jahrzehnt ist lang, lang genug, um Wurzeln zu schlagen, ob man will oder nicht. Während dieser Zeit ist viel passiert - besonders die letzten Jahre waren geprägt von grossen Veränderungen und Abschieden: von Nero, vom Fotokünstler, von lieb gewonnenen Menschen, auch von Gewohnheiten, Hoffnungen und Illusionen. In wenigen Monaten steht nun ein weiterer grosser Abschied an: Ich verlasse Weisslingen und ziehe fort vom Hexenhäuschen auf dem Land, von der Natur, von der Weite und der Stille, und beende die kontemplativen "Spaziergänge in Weisslingen".

Das Leben ist bekanntlich Veränderung. Nirgendwo sonst habe ich diese so hautnah mitbekommen wie hier beim Blick in den Garten und über die Felder, vor allem aber während meiner Spaziergänge. Die Natur im ständigen Wandel zu beobachten, den Wechsel der Jahreszeiten so intensiv miterleben zu können, war vielleicht das grösste Geschenk.

Der letzte Spaziergang in Weisslingen, über den ich schreibe, ist ein Frühlingsspaziergang. Es ist schön, diese Spaziergänge im Frühling zu beenden, wenn alles frisch entsteht, üppig gedeiht und voller Leben ist. Wenn sich der Kreislauf der Jahreszeiten erneuert, trägt er die Hoffnung zuvorderst.