Freitag, 28. Juni 2019

Gesprächsfetzen


Bahnhof Fehraltorf, kurz vor halb zehn Uhr morgens. Eine Handvoll Erwachsener wartet wie ich auf die S3 nach Zürich. Einige unterhalten sich zu zweit oder zu dritt. Jugendliche hat es keine, Kinder auch nicht, ausser einem Mädchen im Buggy. Sie scheint mir etwas zu gross für den Kinderwagen, in dem sie sitzt. Das Mädchen sieht fremdländisch aus mit ihren schwarzen Locken und dem dunklen Teint. Die Stirn in Falten gezogen starrt sie ernst vor sich hin, zu ernst für dieses junge Alter. Ich nehme Blickkontakt auf und versuche, ihr ein Lächeln zu entlocken. Da erkenne ich ihre Mutter, ich habe sie hin und wieder zusammen mit ihrem Mann in Weisslingen gesehen. Eine Flüchtlingsfamilie fällt in so einem Dorf auf. Der Mann grüsst immer sehr freundlich, wenn er am Morgen zur Bushaltestelle kommt. Die Mutter ist im Gespräch vertieft mit einer schönen, hochgewachsenen Frau, die eine entfernte Bekannte zu sein scheint.

Die Grosse: "Wie alt ist sie jetzt?"
Die Mutter: "2 Jahre. Nach Sommer geht sie in Spielgruppe."
G: "Sehr schön! Jeden Tag?"
M: "Nein, nur Dienstag. Ja, schön, sie spielen... andere Kinder..."

Auch von der anderen Seite schwappen Fetzen einer Unterhaltung zu mir herüber. Ein drahtiger, braungebrannter Mann mit kurzem, weissem Haar, in kurzen Hosen und Turnschuhen, eine gelbe Plastiktasche von Radio Zürisee über der Schulter, redet auf eine etwas blasse Frau mittleren Alters ein, vielleicht eine Nachbarin. Der Mann scheint sich rundum wohlzufühlen in seiner Haut, zufrieden mit sich und der Welt schaut er immer wieder erwartungsvoll in die Runde der Wartenden, wie ein Schauspieler zum Publikum. Die Frau ist in der Rolle der Statistin, die hin und wieder Fragen stellt und ihm aufmunternd zulächelt.

Der Mann: "Bei uns zu Hause haben wir 23 Grad. Das ist super! Nur draussen ist es heiss. Wir halten eben konsequent die Fenster geschlossen. Erst nach Mitternacht machen wir auf. Wer zuerst aufstehen muss zum Pinkeln, macht alle Löcher auf."


Die Grosse: "In welche Klasse gehst du?"
Die Mutter: "A2 bis A3, aber nur bis Sommer."
G: "Dann hast du Ferien? Wann beginnen die Ferien?"
M: "Juli, ich glaube 4. Juli.
G: "Aha"

Die Statistin: "... da war meine Freundin schon im Greifensee schwimmen."
Der Mann: "Ich schaffe es einfach nicht, am Morgen Sport zu machen. Aufstehen macht mir nichts aus, ich stehe immer früh auf. Aber Sport machen, das schaffe ich nicht. Ich stehe schon früh auf, das macht mir nichts aus. Aber ich bin dann einfach müde."

Die Mutter: "Gehst du arbeiten?"
Die Grosse: "Nein, heute nicht. Heute habe ich einen Termin in Winterthur... Und am Nachmittag habe ich frei."
M: "Was arbeitest du?"
G: "Ich unterrichte, ich unterrichte Klavier. Aber heute habe ich frei."



Der Mann: "Ja, gestern Abend. Doch doch. Wir sind dann einfach statt auf die Bahn in den Wald gegangen. Das ging dann. Und wir haben es gemütlich genommen, haben ein gemütlicheres Tempo angeschlagen, ganz entspannt."
Die Statistin: "..."
M: "Ja, heute gehe ich auch, aber wir treffen uns erst um neun Uhr. Dann ist es nicht mehr so heiss."

Die Grosse: "Kann man da mit dem Flugzeug hinfliegen?"
Die Mutter: "Ja, ja, mit dem Flugzeug."
G: "Über die Türkei?"
M: "Ja, viele fliegen über Türkei..."
G: "Das ist schön, dass du mit dem Kind hinfliegen kannst."
...
G: "Ich drücke dir die Daumen, dass es mit der Arbeit klappt!"

Das stille Zwiegespräch zwischen dem Mädchen und mir bemerkt niemand. Wir verständigen uns mit Blicken, lautlosen Grüssen, Lächeln. Irgendwann beginnt das Mädchen zurückzulächeln, wendet den Blick etwas beschämt ab, schaut wieder her, wiederholt das Spiel mehrmals und bricht dann in ein glucksendes Lachen aus.


Mittwoch, 26. Juni 2019

Sommeranfang




Pünktlich auf den Sommeranfang ist das heisse Wetter auch bei uns angekommen! Und gleich mit Rekordtemperaturen, sozusagen ein Senkrechtstart. Schnell werden Röcke und Sandalen hervorgekramt, kurze Hosen und Leinenhemden. Viel nackte Haut am Bahnsteig schon am Morgen früh, Sonnenbrillen und Flipflops. Die ausgelassene und entspannte Stimmung jedoch hinkt etwas hinterher und lässt noch auf sich warten.


Die langen Sommerferien sind in Reichweite, ein Hauch von Kokosöl- und Kerosenduft liegt in der Luft.

Freitag, 21. Juni 2019

Spaziergang in Weisslingen - schwüle Müdigkeit

Mitte Juni und Wetter wie im November. Dichter Regen prasselt aus grauen Wolken. Und trotzdem möchte ich an die frische Luft. Als nach einiger Zeit der Regen schwächer wird, ziehe ich ich die Wanderschuhe an, und bis ich aus der Türe bin, hört es gänzlich auf zu regnen.



Es zieht mich vom Garten aus geradeaus übers Feld. Die frisch gemähten Stoppeln sind ganz hell, mehr gelb als grün, und hier und da liegen noch Resten des Heus, das der Bauer vorgestern eingefahren hat. Ich marschiere weiter geradeaus über die Wiese, bis ich den Feldweg erreiche, und folge diesem bis ans Ende des "Püngertli", der einfallslosen Siedlung, die vor einigen Jahren hier gebaut wurde und so gar nichts mit dem Rest des Dorfbildes zu tun hat.



Die Wolkendecke lichtet sich, und die wenigen Sonnenstrahlen reichen, um kräftig einzuheizen. Augenblicklich wird es schwül. Die ganze Feuchtigkeit des vielen Regens verdampft und steigt vom Boden in die Luft. Mein Aufstieg wird beschwerlich. Keuchend marschiere ich weiter den Hang hoch, der Kies knirscht unter meinen Schuhen.



Um mich herum ist üppige Vegetation, grün in allen möglichen Nuancen. Vom schlechten Wetter abgelenkt habe ich kaum bemerkt, wie sich der Frühling verabschiedet und Sommer sich eingeschlichen hat. Auf den Feldern ist das Korn schon hoch. Unermüdlich kreist der Milan über die weite Landschaft und kündigt mit seinen eindringlichen Schreien die neue Jahreszeit an - die Jahreszeit, die mir die liebste ist. Wieso nur mag ich mich jetzt so gar nicht recht darüber freuen?



Es zieht mich in den Wald hinein. Die Spuren der vergangenen Gewitternacht sind auch hier überall zu sehen: abgebrochene Zweige und heruntergerissene Blätter bedecken den Weg, grosse Pfützen haben sich darauf gebildet. Die Luft im Wald ist etwas frischer, doch auch hier ist es schwül. Liegt es an der Erschöpfung, dass dieser Ort heute meine Stimmung nicht erhellen kann? An den Veränderungen, die vor sich gehen? An denen, die ich noch nicht integriert habe, und denen, die noch anstehen? Der Vogelgesang im Wald ist heute so wunderschön wie immer, und doch schafft er es diesmal nicht, mein Herz zu berühren.


Ich biege nun rechts ab ins Dickicht. Eine letzte Steigung noch, dann bin ich oben angelangt. Wie friedlich ist es hier, und ruhig. Die einzigen Geräusche sind das Knirschen meiner Schritte, das mannigfaltige Vogelgezwitscher und die dicken Wassertropfen, die ploppend von den Ästen fallen. Es duftet nach nassem Erdboden, nach frischer Vegetation, nach Holz, nach Nässe, nach prallem Leben.


Waldbaden - ein neues Wort für eine alte Tätigkeit, die bisher ohne Fachbezeichnung auskam. Waldbaden kann man heute hier wortwörtlich, so feucht und nass ist es um mich herum.



Der Weg zweigt nun links ab und führt mich in einem grossen Bogen wieder hinaus an den Waldrand. Genug gewaldbadet für heute. Die vielen Akeleien am Wegesrand halten ihre Köpfchen immer noch nach unten gesenkt aus Schutz vor den schweren Regentropfen. Doch die Wolkendecke reisst immer weiter auf und in ein paar Stunden werden sie ihre hübschen Kelche wieder der Sonne entgegenstrecken können.



Der Wanderweg führt mich nun wieder hinunter, zurück in die Zivilisation. Auf der Wiese zirpen die Grillen, Vogelgesang erklingt in meinem Rücken, und in der Ferne zwei Knaben, die auf dem Feld neben dem Weiher Fussball spielen.





Ein Schreckensmoment, als ich das abgetrennte Bein eines Rehs entdecke - abgemäht oder abgerissen von einem wildernenden Hund? Das Leben auf dem Land ist nicht idyllisch, wie es in manchen Filmen und Büchern so gerne dargestellt wird. Das habe ich in diesen Jahren hier in Weisslingen gelernt. Die meisten Bauern halten nichts von Tierfreundlichkeit, und bio ist bei vielen hier ein Reizwort. Die Hobbygärtner sprühen Gifte, die in der Landwirtschaft schon längst verboten sind, auf ihre Fast-Golfrasen, auf denen dann doch niemand sitzt.
Links pfeifen die Vögel aus dem Wald, rechts rauscht dichter Sonntagsverkehr über die Kantonsstrasse. Das Leben ist ein Kommen und Gehen, ein Wechselbad von Gegensätzen, Schönheit und Schrecken gleichzeitig, Leben und Tod, und immer wieder auch Gewalt. Ist so, kann man nichts machen, würde der Fotokünstler jetzt sagen. Und auch Naturnähe, die wir uns so sehr wünschen, hat eben ihren Preis. Auch das gehört dazu.



Die hohen Gräser streicheln sanft über meine Arme, als ich dem Waldrand entlang zurückgehe, und steifen ihre letzten Wassertropfen an mir ab. Meine Schuhe und Hosen sind schon klatschnass. Doch die Sonne scheint nun so stark, dass alles trocknen wird, noch ehe ich zu Hause angekommen bin.



Bald bin ich wieder unten angelangt. Das Islandpony vor dem Stall begrüsst mich schnaubend, und von der Siedlung her klingt es nach Unbeschwertheit, nach spielenden Kindern und plaudernden Eltern beim Kaffeekränzchen. Unermüdlich dreht der Milan hoch über unseren Köpfen weiter seine Runden und schmettert seine Schreie weit übers Land.