Montag, 30. September 2013

Entschleunigung


Ich habe mir vor ein paar Wochen den Ellbogen gebrochen und kann nur noch einen Arm benutzen. Seitdem bestimmt ein anderes Tempo mein Leben. Langsamkeit, Achtsamkeit, Präsenz, Konzentration auf den jetzigen Moment - all das, was ich sonst beim Yoga, Pilgern, Fotografieren und ähnlichen meditativen Tätigkeiten erfahren habe, bestimmt nun meinen gesamten Alltag. Ich kann nur eine Aufgabe nach der anderen erledigen, jede braucht ausgiebig Zeit und erfordert meine volle Konzentration. Wie ein Kind, das zum ersten Mal lernt, seine Jacke selbständig zuzuknöpfen und die Schuhe zu binden, so muss auch ich viele gewohnte Bewegungsabläufe neu lernen und einüben.


Ich renne nicht mehr auf den Bus, das ist mir jetzt zu gefährlich und tut weh. Ich gehe langsam. Beim Gehen schweife ich in Gedanken nicht ab zu dem, was ich unbedingt noch fürs Abendessen einkaufen muss. Jetzt achte ich auf den Boden, wo ich meinen Fuss, meine nächsten Schritte hinsetze. Beim Kochen kehre ich in Gedanken nicht zum letzten Gespräch zurück. Jetzt muss ich mich voll darauf konzentrieren, ob und wie ich die Zwiebel einhändig schneiden kann. Ich decke nicht den Tisch und telefoniere gleichzeitig. Jetzt tische ich zuerst auf, und zwar ein Geschirrstück nach dem anderen. Mehr geht nicht. Mein Unfall zwingt mich zu Langsamkeit und Aufmerksamkeit.

Den Alltag so zu meistern ist manchmal mühsam und anstrengend, anderseits aber auch befriedigend. "Befriedigend" = Frieden bringend. Genau das tut es. Ich hetze nicht mehr, das geht zurzeit gar nicht, also bin ich nicht mehr gehetzt. Ich überfordere mich nicht mit viel zu langen To-Do-Listen, das wäre zurzeit völlig sinnlos. Ich stresse mich nicht, indem ich mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen versuche. Fürs Multitasking fehlt mir jetzt ein Arm. Ich reduziere meine Aktivitäten, aber erstaunlicherweise fühle mich dadurch nicht reduziert. Ich fühle mich ruhig und präsent, es fehlt mir an nichts, mir ist nicht langweilig, ich bin nicht unzufrieden. Was stand auf meinen nie zu meisternden To-Do-Listen? Ich kann mich nicht erinnern, also wird es nichts Wesentliches gewesen sein.



Nicht "Reduce to the max", vielmehr "Reduce to the minimum" ist mein unfreiwilliges Motto im Moment. Es ist mir noch nicht einmal möglich, Harfe zu spielen oder zu fotografieren, selbst am Computer schreiben geht nur für wenige Minuten. Jetzt bin ich vollauf mit den ganz grundlegenden Alltagstätigkeiten wie kochen, essen, Nahrung besorgen, mich waschen, anziehen, den Haushalt in Ordnung halten beschäftigt. Und damit, mich um meine Genesung kümmern. Zu mehr reicht es in diesen Tagen nicht.



Ich entscheide mich, es hinzunehmen, wie es ist, mich nicht dagegen aufzulehnen und mich auf die positiven Aspekte zu konzentrieren. Ich bin dankbar für die Erfahrungen, die ich durch meinen Unfall machen durfte - nicht zuletzt auch für dieses Zeitfenster, das mir ungewollt und unerwartet zuteil wurde, in dem ein langsameres, bedächtigeres Tempo und vermehrte Achtsamkeit mein Leben bestimmen darf.