Sonntag, 15. Februar 2015

Spaziergang in Weisslingen - Neuschnee

Bei Neuschnee ist es in Weisslingen am schönsten. Kaum ausserhalb des Dorfes wird kein Weg mehr gepfadet. Auf den Feldern und im Wald bleibt der Schnee deshalb so liegen, wie er fällt, pudrig und tief. Nur wenige mögen es, bei solchen Verhältnissen spazieren zu gehen. Mich hingegen zieht es gerade jetzt raus in die Natur. Ausgerüstet mit warmen Winterwanderstiefeln und eingepackt in meiner dicken Windjacke marschiere ich also drauflos, um die vom Schnee verzauberte Landschaft neu zu entdecken.


Die Sonne scheint zwar heute nicht, aber der Schnee hat die Felder in weite, gleissend helle Flächen verwandelt, auf denen ich keine Strukturen mehr erkennen kann. Die Helligkeit blendet meine Augen. Doch nach Tagen, ja Wochen voller Grau, Dunkelheit und Bildschirmarbeit, in staubigen Räumen mit trockener Luft und Kunstlicht empfinde ich diese Frische und Fülle an Licht als ungemein wohltuend.

Ich spüre, wie das Profil meiner Stiefel im trockenen Neuschnee greift und lausche dem leisen Knirschen unter meinen Tritten. Sonst kein Laut - Stille. Die Menschen schlafen noch, geniessen ihre warmen Stuben. Im Wald fällt mir das  fröhliche Vogelgezwitscher auf - es scheint so gar nicht recht hierher zu passen. Die Vögel pfeifen emsig, als ob sie der viele Schnee nichts angehen und auch nicht im geringsten stören würde. Ihr fröhlicher Gesang kündet vom Frühling. Daran erkenne ich, dass der Winter, trotz des vielen Neuschnees, seinem Ende zugeht. Schade eigentlich...



Vor mir Spuren von Mensch und Tier: Ein Mann mit seinem Hund ist hier schon durchgegangen. Sonst ist der Schnee noch unbefleckt und unberührt. Ich habe Hemmungen, auf diese wunderschöne, reine Schneedecke zu treten und sie durch meine Tritte zu versehren. Immer wieder kreuzen Spuren von Wildtieren meinen Weg: ein Hase? ein Fuchs? ein Reh? Ich gestehe mir ein, dass ich keine Ahnung habe. Ich versuche zu erkennen, woher das Tier gekommen, wohin es gegangen ist, und ob es vielleicht noch in der Nähe ist. Doch so sehr ich auch ins Dickicht starre, ich kann nichts erkennen.


Ich gehe auf weiter, tiefer in den Wald hinein. Den Weg selber erkenne ich kaum, ich kann ihn nur dort vermuten, wo jetzt ein breites Schneeband den Wald durchschneidet und wo die Spuren meiner Vorgänger mich hinführen. Nun macht der Weg eine Kurve, doch die Mann-Hund-Spuren führen geradeaus in den Wald hinein. Soll ich... oder lieber nicht? Nach kurzem Zögern lasse ich mich aufs Abenteuer ein und folge den Spuren ins Unterholz. Sie führen mich entlang eines gurgelnden Bachs, der mir vorher gar nie aufgefallen war. Nach ein paar Schritten habe ich das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein. Mein Herz geht auf beim Anblick dieses verschneiten Märchenwalds. Es ist wunderschön! Rund um mich verschneite Tännchen, schneebedeckte Bäume und ein kleiner Wasserfall. Die Äste sind dick mit Schnee bepackt, darunter leuchten Moos und Flechten bereits kräftig grün und gelb. Ich beobachte eine Weile das Spiel der Tropfen, die von den schmelzenden Eiszapfen ins Wasser fallen.  Dann gehe ich weiter. Nachdem ich über zwei liegengebliebene Baumstämme geklettert bin, komme ich wieder auf den Hauptweg zurück. Wäre der Schnee und die Spuren vor mir nicht gewesen, hätte ich diesen Pfad nie entdeckt.


Es zieht mich zum Weiher. Ich war schon lange nicht mehr hier - wer weiss, was mich heute erwartet? Tatsächlich haben Eis und Schnee auch hier Kunstvolles erschaffen: Die schneebedeckten Schilfbüschel sehen aus wie Champignons, und Schmelzwasserrinnen bilden wundersame Muster und Formen auf der vereisten Wasseroberfläche. Das vom Schnee reflektierte Licht bringt die Farben wieder hervor, die im düsteren Hochnebelgrau verschwunden waren: blau, braun, grün - zart und kräftig zugleich. Auf dem hellen Hintergrund sehen die Konturen von Büschen und Bäumen wie filigrane, präzis geschnittene Scherenschnitte aus.


Meine Augen können sich kaum satt sehen ob so viel Schönem. Ich weiss nicht, wieviel Zeit vergeht. Wenn ich so mit der Welt verschmelze, dauert der Augenblick ewig. Ich fühle mich ganz und erfüllt, ehrfürchtig und dankbar.



Schliesslich werden die Finger trotz Handschuhe ein wenig klamm und es beginnt mich zu frösteln. Zeit, den Heimweg über die Felder anzutreten. Keine Spuren hier, die mir den Weg weisen. Munter marschiere drauflos, ganz erstaunt darüber, wie einfach es ist, sich zu verlaufen in einer Landschaft, in der keine Wege und Grenzen mehr erkennbar sind. Doch ich kenne die Richtung und stapfe beherzt quer über Felder und Weiden heimwärts. Es hat etwas ungemein Befreiendes, einfach so nach Lust und Laune durch die Welt zu spazieren, ohne sich an vorgegebene Wege halten zu müssen. Und es macht so Spass!


Mittlerweile zwitschern die Vögel nicht mehr so fröhlich. Sie hatten, wie wir alle, wohl nicht damit gerechnet, dass sich Schnee und Kälte so lange halten würden. Doch es schneit und schneit, immer wieder. Wir haben mittlerweile so viel Schnee wie schon lange nicht mehr. Die Automobilisten schimpfen, die Katze setzt keinen Schritt mehr vor die Türe - und ich freue mich schon auf meinen nächsten Spaziergang!

Sonntag, 8. Februar 2015

Spaziergang in Weisslingen - Geburtstag

Es schneit und es ist grau an meinem Geburtstag.



An meinem Geburtstag fühle mich etwas einsam. Es haben zwar viele an mich gedacht und tele-gratuliert - Telefon, Facebook, WhatsApp, SMS und Post sei Dank - aber keine(r) meiner Liebsten ist persönlich vor Ort. Der Fotokünstler sitzt gerade in Helsinki am Flughafen, meine Familie ist im Süden, meine Freunde sind entweder in den Skiferien, krank oder haben meinen Geburtstag schlicht vergessen. Sogar der Kater hat sicherheitshalber das Weite gesucht, erschreckt durch das Reissen und Rascheln von Geschenkpapier.



Etwas traurig mache ich mich also auf meinen Spaziergang. Beim Gehen stelle ich fest, dass diese Spaziergänge wie das Leben sind: mal schön, mal anstrengend, mal erlebe ich wunderbare Überraschungen, mal komme ich kaum vom Fleck, und egal wie Wetter und Umstände sind, bleibt einem am Schluss nichts anderes übrig als weiterzugehen, einen Schritt nach dem anderen. Und irgendwann ist man dann am Ziel. Nur dass es im Leben, wie ich langsam merke, kein Ziel gibt. Es geht einfach immer so weiter, mal rauf und mal runter.



Und während ich so vor mich hin philosophiere, stelle ich fest, dass ich die ganze Zeit  gar nichts von meiner Umgebung mitbekommen habe. In Gedanken versunken und gleichzeitig offen zu sein für meine Umwelt, geht nicht. Den Blick kann ich nur in eine Richtung lenken: nach aussen oder nach innen. Ich weiss, was mir besser tut, und ich weiss auch, was ich dafür tun muss.



Ich konzentriere mich also auf meine direkte Wahrnehmung, achte auf Geräusche und Gerüche. Ich spüre die frische, feuchte Luft auf meiner Haut und schaue dem Tanz der Schneeflocken zu, wie sie leicht und verspielt vom Himmel fallen. Für einen Moment wird es heller, und kurz drückt die Sonne zwischen den Wolken durch. Vorsichtig gehe ich weiter. Ich achte, wo ich die Füsse aufsetze, denn unter der dünnen Neuschneeschicht versteckt sich die feste, unregelmässige Eisschicht, die sich in den letzten Wochen gebildet hat.



Je mehr ich mich dem Wald nähere, desto tiefer wird der Schnee. Ich spüre, wie die angefrorene Oberfläche kurz Widerstand leistet, bevor sie unter meinem Gewicht knackend nachgibt, und wie sie mich manchmal gerade noch knapp hält. Ich betrachte das messerscharf gezeichnete Profil, das die Sohlen meiner Winterstiefel im Schnee hinterlassen - es sind die einzigen frischen Spuren weit und breit.



Meine direkten Sinneswahrnehmungen führen mich zurück zum jetzigen Moment und verbinden mich mit der Umgebung.



Es beginnt heftiger zu schneien, aber ich stelle fest, dass es gar nicht so schlimm ist. Der Schnee macht mir Spass. Er weckt mein inneres Kind, verzaubert die Umgebung, dämpft die Geräusche und bringt Licht in den trüben Tag. Kalt ist mir nicht, denn das Gehen im Schnee ist anstrengend. Der frisch gefallene Schnee hat wieder sämtliche Feldwege zugedeckt und die Landschaft in eine blendend weisse Ebene verwandelt. Ich kann nur vermuten, wo mein Weg durchgeht. Wenn ich auf ihm bin, fällt mir das Gehen leicht, doch kaum setze ich einen Schritt daneben, sinke ich ein bis zu den Waden. So stapfe ich über die Felder und komme mir vor wie Indiana Jones. Und unerschrocken wie dieser pfeife ich auf den schimpfenden Bauern und wähle die Direttissima: Ich weiss, wo mein Haus liegt, und diesem stapfe ich nun in Luftlinie geradeaus zu, querfeldein durch das weisse Schneefeld. Ich kenne das Ziel, ich kenne das Gelände, was also kann schon passieren?

Sonntag, 1. Februar 2015

Spaziergang in Weisslingen - Paarlauf

Als Single sollte man am Sonntag hier nicht spazierengehen. Ausser es macht einem wirklich gar nichts aus, dass man keine Familie, keine Kinder, ja nicht mal ein bis zwei Hunde als Begleitung hat. Denn der Sonntag ist hier definitiv Familientag beziehungsweise "Paartag".



Beim Spazierengehen begegnen mir vor allem Paare, konventionelle wohlverstanden, also Männlein und Weiblein meist mittleren bis gesetzteren Alters. Kinder wenige, Jugendliche gar keine. Wobei mir vor ein paar Wochen zum erstenmal einer begegnet ist, ein männlicher Jugendlicher, der ebenfalls alleine spazieren ging. Ich war völlig sprachlos und konnte meine erstaunten Augen von diesem wandelnden Jahrhundertereignis kaum abwenden. Vereinzelt habe ich auch schon eine junge Frau gesehen mit einem Hund, den sie kaum beachtet hat, so sehr war sie in ihr Handygespräch vertieft. Ich habe mir vorgestellt, dass sie von den Eltern zum Gassigehen geschickt wurde: "Nie tust du etwas im Haushalt! Immer muss ich...! Wenigstens mit dem Hund könntest du...!" Aber wer weiss das schon.



Gleichgeschlechtliche Paare sieht man hier ebenfalls kaum. Ab und zu eine Mutter mit Tochter beim Nordic Walken. Einmal kamen mir zwei jüngere Frauen entgegen, offensichtlich Freundinnen oder Schwestern, aber das waren Deutsche. Die sind mit dem Paarlauf-Ritus noch nicht vertraut und können sich deshalb leichter darüber hinwegsetzen. Zumindest anfangs. Denn Ausländer spazieren hier ebenso selten wie Jugendliche. In den letzten paar Jahren kann ich mich an genau zwei Begegnungen mit Ausländern erinnern: einmal eine deutsche Familie im Wald, die anscheinend frisch zugezogen war und ihr neues Umfeld auskundschaften wollte, und dann eine spanisch-amerikanische Familie in verschiedenen Kombinationen (Vater mit Tochter, ganze Familie mit englischsprachigem Besuch, Vater beim Joggen).



Homosexuelle Paare habe ich hier auch noch nie gesehen. Die wären in Weisslingen ja noch exotischer als Singles. Von letzteren gibt es in meiner näheren Umgebung mittlerweile doch immerhin schon drei, beziehungsweise vier, wenn man die Pferdefrau dazuzählt, die ihre Nachmittage und Abende immer hier im Stall verbringt. Würde man die verwitweten Betagten, die bereits mit einem Bein im Pflegeheim stehen, auch noch mitzählen, dann würde die Zahl natürlich sprunghaft ansteigen. Aber denen begegne ich auf meinen Spaziergängen erst recht nie. Als ex-Paarläufer wollen sie möglicherweise nicht jetzt noch im hohen Alter mit einer neuen Gewohnheit beginnen.



Tja, auf dem Land hat alles noch seine Ordnung. Deshalb gehe ich am Sonntag am liebsten gleich nach dem Frühstück spazieren, denn da habe ich die Natur noch für mich. Bis die Paarläufer kommen, bin ich meist wieder zu Hause. Oder unter der Woche, da ist meist eh niemand unterwegs. Höchstens ein paar Hundehalter, doch die führen ihre Hunde mehr in den Niederungen der Felder und Weiden spazieren. Im Wald oben ist kaum jemand, nicht einmal Jogger oder Mountainbiker. Übrigens ist es sogar sonntags so, dass im Verhältnis zur Dorfbevölkerung nur ein minimaler Prozentsatz überhaupt spazieren geht, und davon schaffen es die wenigsten bis in den Wald. Was mir immer wieder Stoff zum Nachdenken gibt. Umso besser. Dann kann ich der Stille und dem Vogelgezwitscher in Ruhe lauschen.



Früher übrigens, da ging es am Weiher aber anscheinend noch ganz anders zu und her. Da war der Brauiweiher ein richtiger Hotspot und Weisslingen dafür bis über die Landesgrenzen hinaus berühmt oder berüchtigt (je nach Sichtweise). Da sind die Leute bis von Winterthur hergekommen, um hier zu baden und zu picknicken. Und auf der hinteren Uferseite wurde sogar nackt gebadet! Ja, es kommt noch krasser: Da entstand ein sogar international bekannter Treffpunkt für Schwule, die hier nackt gebadet, sich gesonnt und anschliessend im Wald gepaart haben. Da sei es nicht selten passiert, dass dir beim Spaziergang plötzlich ein Nackter auf dem Waldweg entgegengekommen ist. Oder dass beim beschaulichen Übers-Wasser-in-die-Ferne-Schauen plötzlich eine Frau demselbigen entstiegen ist und zwar im Evakostüm, wie Gott sie erschaffen hat - wie Ursula Andress im James-Bond-Film also, nur ohne Bikini. Ja, das erzählt man sich hier. Leider kenne ich diese wilden Wislinger Zeiten nur vom Hörensagen, denn unterdessen hat man die Nudisten vertrieben und die Schwulenszene verboten. Anscheinend den Kindern zuliebe. Jetzt begegnen einem im Wald weder Nudisten, noch Schwule und erst recht keine Kinder. Und im Brauiweiher vermehren sich nicht einmal mehr die Frösche, sondern nur noch Algen. Und statt Meerjungfrauen schwimmen darin nur noch die nie gefundenen Leichen der Selbstmörder.