Montag, 11. Juli 2016

Santiago de Compostela


Dass ich einmal so in Santiago ankommen würde, so ganz profan mit Flugzeug und Mietauto, hätte ich auch nicht gedacht, als ich vor 6 Jahren mit Pilgern begonnen hatte.



Über Freunde habe ich 2010 zum ersten Mal vom Jakobsweg gehört. Ein halbes Jahr später habe ich  mich selber auf den Weg gemacht. Eine Woche lang bin ich damals alleine von Konstanz bis an den Vierwaldstättersee gepilgert. Diese eine Woche ist mir so eingefahren, dass ich beschlossen habe, jedes Jahr ein Stück auf dem Jakobsweg weiterzugehen bis nach Santiago de Compostela. Aber wie so oft, wenn man sich etwas vornimmt, kam es anders. Jahr für Jahr kam wieder etwas dazwischen, so dass sich meine Pilgerreise immer weiter nach hinten verschoben hat.
Jetzt bin ich trotzdem in Santiago angekommen, wenn auch völlig anders als erwartet: nicht alleine, sondern mit dem Fotokünstler, nicht pilgernd, sondern um ihn bei den Vorbereitungen für eine Fotoreise zu unterstützen, die er im Herbst leiten wird.


Schon bei unserem ersten Stadtbesuch sehe ich sie, die "richtigen" Pilger, wie sie ankommen auf der Plaza de Obradoiro vor der mächtigen Kathedrale, dem Endziel aller Jakobswege. Ihr Glück strahlt durch die Pelerine hindurch, weder Regen noch Kälte können ihnen etwas anhaben. Unter all den Menschen in dieser Stadt - Einheimische, Studenten, Touristen und Wallfahrer - sind sie hier die wahren Könige.
Santiago gehört den Pilgern, sie sind die Helden, das Herz und der Motor dieser Stadt. Ununterbrochen kommen sie an, in Gruppen, auf Fahrrädern, zu zweit oder alleine, Junge und Alte, aus dem In- und Ausland. Das Glück, das sie ausstrahlen, wirkt ansteckend. Ich freue mich mit ihnen, auch wenn sich unter die Freude etwas Wehmut mischt darüber, dass ich nicht auch zu dieser Pilgerschar dazugehöre, dass ich nicht ebenfalls pilgernd angekommen bin.


Die Altstadt von Santiago gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. Sie ist riesengross und wunderschön erhalten. So können wir uns, zusammen mit den anschaulichen Informationen im neuen Pilgermuseum, gut vorstellen, wie es hier im Mittelalter zu- und hergegangen ist. Das muss damals nicht viel anders gewesen sein als heute.
Die Stimmung in Santiago ist offen und lebhaft, gleichzeitig aber auch ruhig und entspannt. Vielleicht liegt es daran, dass die gesamte Altstadt autofrei ist. Vielleicht liegt es aber auch an den Pilgern, die seit Jahrhunderten das Stadtbild prägen. In ihrer Ausstrahlung unterscheiden sie sich von den anderen Menschen hier. Mit ihrer unaufdringlichen Präsenz scheinen mehr in sich zu ruhen, und weniger nach aussen orientiert zu sein als die anderen Besucher.


Am letzten Tag kommen wir beim Abendessen mit zwei von ihnen ins Gespräch. Die beiden sitzen ein paar Tische weiter und unterhalten sich angeregt. Später erzählen sie uns, dass sie erst vor ein paar Stunden in Santiago angekommen sind. Überdreht von der Erschöpfung, dem Wein und der Freude schwenken sie ihre Pilgerurkunden, reden und lachen etwas zu laut. Die Köpfe der anderen Gäste und des Kellners drehen sich mehrmals nach ihnen um. Auch wir schauen wie gebannt hin. Ich freue mich über ihre Freude und frage sie nach ihrer Geschichte, die sie gerne mit uns teilen. Ich gratuliere ihnen dafür, dass sie dieses grosse Unterfangen gewagt und geschafft haben. Und wieder mischt sich Wehmut unter meine Mit-Freude und Bewunderung.


Der Faszination des Pilgerns kann sich hier niemand entziehen. Und so beschliesse ich nochmals und ganz fest, spätestens nächstes Jahr meine eigene Pilgerreise wieder aufzunehmen. Kaum habe ich den Entschluss gefasst, kommen auch gleich Ängste und Zweifel auf: Werde ich wirklich den Mut aufbringen und es durchziehen? Liegt das körperlich überhaupt noch drin? Schliesslich bin ich ja unterdessen doch einige Jahre älter geworden. Macht das denn noch Sinn, nach all den Jahren? Und wenn ich dann enttäuscht bin? Und wann soll das noch in meinen Kalender passen? Und und und...



Auch am Flughafen begegnen wir wieder Pilgern. Wie wir warten sie auf den Flug, der sie zurück in ihre Heimat und ihren Alltag bringen wird. Da ist der ältere Herr: strahlend und selbstbewusst trägt er seine grosse Holzmuschel um den Hals, stellt sie der ganzen Welt zur Schau. Seine Frau ist ihm entgegengeflogen und zusammen kehren sie nun heim. Sein Stolz auf die vollbrachte Leistung ist unübersehbar. Da sind die zwei Freundinnen: sie plappern ununterbrochen aufgeregt über ihre Pilgerwoche mit Hund, während sie hinter uns am Check-in-Schalter anstehen. Die eine der beiden ist trotz der Kälte barfuss, mit wundgelaufenen Füssen. In der Abflughalle dann eine weitere Pilgerin, alleine mit ihrem grossen Rucksack: Sie ist schon etwas älter und steht etwas verloren in der grossen Abflughalle herum, unschlüssig, was sie tun soll. Sie wirkt etwas verwirrt, als sei sie gerade erst von einem Traum erwacht und noch gar nicht richtig in der Realität angekommen. Ob sie sich Zuhause wieder zurechtfinden wird nach dieser langen, aussergewöhnlichen Reise? Ob sie sich etwas von dem, was sie in den letzten Wochen oder Monaten erfahren und erlebt hat, in ihrem Alltag erhalten kann? Die gewonnenen Erkenntnisse auf ihrem weiteren Lebensweg umsetzen kann? Das Bild stimmt mich nachdenklich, und im Stillen wünsche ich ihr ganz viel Glück und Kraft. Denn von allen schwierigen Etappen des Jakobswegs ist der Rückweg wahrscheinlich die allerschwierigste.