Sonntag, 23. September 2018

Pendler am Abend (Entfremdung III)

Gedränge von Beinen und müdes Geschubse von Rucksäcken am Bahnsteig,
abgelöschte Gesichter flüchten sich in Smartphones und Gratiszeitungen ohne Inhalt
- dürftiger Schutz vor Lärm und Beklemmung.
Geschlossene Augen, Stöpsel in den Ohren, schweigende Münder.


Weit oben am tiefblauen Himmel dreht ein Milan einsam seine Runden
und Mauersegler überschlagen sich in wilden Kapriolen.

Samstag, 1. September 2018

Und plötzlich ist es Herbst

Auf einmal ist er da, der Herbst. Am vergangenen Sonntag ist er eingetroffen. Alle haben es gemerkt, auch wenn niemand genau hätte sagen können, warum. Der Radiomoderator sprach schon am Morgen früh vom "ersten Herbsttag" und am Konzert begrüsste uns die Musikerin mit den Worten: "Schön, dass Sie an diesem... [Blick zum Fenster]... ja... [Zögern]... an diesem... herbstlichen... Sonntag nach Rheinau gekommen sind." Uns Besuchern ging es genau so wie der Musikerin. Wir waren ebenso verblüfft und konnten es kaum glauben, dass es auf einen Schlag so offensichtlich Herbst geworden war nach diesem Sommer, der ewig zu währen schien.

Der Herbst präsentierte sich an diesem Tag in seinem schönsten Gewand: tiefblauer Himmel, strahlender Sonnenschein, die Temperaturen kletterten, nachdem sich der Morgennebel aufgelöst hatte, steil in die Höhe und erreichten schon fast wieder sommerliche Werte. Und doch war es eindeutig Herbst. Wir sahen es am goldenen Licht, an den satten Farben, wir rochen seinen Duft, ja selbst die Luftbeschaffenheit war anders. Auch wenn es noch schöne, warme, möglicherweise sogar sommerlich heisse Tage geben wird: Der Sommer ist vorbei, der Herbst ist da.




Diesen ersten Herbsttag habe ich auf der Musikinsel Rheinau verbracht. Ich war an einem Morgenkonzert des Harfen-Duos "Arpe Diem".
Das Dörfchen liegt noch im Sonntagmorgenschlaf, als mich das Postauto an der Endstation rauslässt. Ich spaziere weiter auf der Dorfstrasse in Richtung Rhein, hinunter zur Brücke, vorbei an Abschrankungen und wenigen Menschen, die dabei sind, Stände und Festbänke für das Weindegustationsfest aufzustellen. Noch ist alles ruhig, leichter Nebel liegt über dem Wasser. Ich bin zu früh, ich habe Zeit, die Musikinsel zu erkunden, und freue mich aufs Fotografieren. Ich überquere die Brücke zur Klosterinsel und tauche ein in eine andere Welt. Stille empfängt mich. Besinnlichkeit erfüllt die Atmosphäre und ein Zauber liegt in der Luft.





Das Kloster dümpelte anscheinend jahrelang vor sich hin, bis unter Initiative von Christoph Blocher eine Stiftung ins Leben gerufen wurde, die es wieder aus seinem Dornröschenschlaft geweckt hat. Das Kloster wurde saniert und zur Musikinsel umfunktioniert. Musikerinnen und Musiker können hier zu bezahlbaren Preisen übernachten, Proberäume mieten und sich ganz ihrer Kunst widmen. Man mag von seinen politischen Ansichten halten, was man will. Doch mit der Renovation des Klosters und dadurch, dass es ausschliesslich der Musik gewidmet wurde, hat Christoph Blocher nicht nur den Musikern ein einzigartiges und mutiges Geschenk gemacht.

Musik höre ich auf der Klosterinsel - ausser am Harfenkonzert - keine, und doch ist die kreative Energie überall zu spüren. Sie erfüllt die ganze Insel auch ohne Töne. Wie gut passen da die minimalistischen Klänge des Komponisten Arvo Pärt, die die Harfenistinnen erklingen lassen, an diesem Ort: Seine Musik ist auf das absolut Wesentliche reduziert und repräsentiert dabei in dieser extremen Einfachheit doch die Vergänglichkeit und Ewigkeit. Ein einzelner Ton, wenn er schön gespielt ist, reicht, soll er gesagt haben.

Der Nebel löste sich schnell auf, die Farben waren prächtig, die Stimmung gut, das Konzert stimmig. Zurück in Richtung Dorf, jenseits der Brücke, ist das kleine Weinfest schon im Gange. Besucher und Ausflügler unterhalten sich, die Weinkellereien laden zur Degustation ein, eine Jazzband spielt dezent vergnügte Melodien, ein Grillstand verkauft Bio-Würste. Mit einer Chiliwurst in der Hand spaziere ich gemütlich wieder hinauf ins Dorf zum Postauto.