Sonntag, 29. Oktober 2017

Fotoreise Normandie - ein grausiger Fund



Auf meinem Spaziergang am Strand von Étretat bin ich schon fast am östlichen Felsentor angelangt. Das Wetter hat umgeschlagen, es sieht aus, als ob es bald regnen würde. Die anderen Strandspaziergänger sind bereits ins Dorf zurückgekehrt, und auch der Fischer packt jetzt sein Angelzeug zusammen. Diese gewaltige, weite Landschaft aus Felsen, Wasser und Luft habe ich jetzt ganz für mich.



Weiter hinten entdecke ich eine Ansammlung von Möwen. Ich möchte sie fotografieren und nähere mich ihnen langsam und vorsichtig, um sie nicht zu verscheuchen. Doch sie scheinen mich gar nicht zu bemerken. Sie sind ganz mit sich und ihrem Tun beschäftigt.



Nun drehe auch ich um und mache mich langsam auf den Rückweg, den Blick nach unten gesenkt auf der Suche nach Strandgut und schönen Kieselsteinen. Strandgut hat es kaum, doch mitten in den Kieseln glänzt etwas silbern. Als ich genauer hinschaue, entdecke ich die Schwanzflosse eines toten Fisches. Der Fisch ist klein und scheint noch nicht lange tot zu sein. Vielleicht ein junger Hering? Gleich daneben entdecke ich eine tote Qualle. Auch sie sieht aus, als sei sie noch nicht lange tot.





Nach ein paar Schritten entdecke ich einen weiteren toten Fisch, dieselbe Art wie vorhin. Silber-grau glitzert er inmitten der matten Kieselsteine. Mit seinem grossen, schwarzen Auge schaut er mich direkt an, klar und ungetrübt ist sein Blick.




Und gleich daneben liegt noch einer. Und dann noch einer. Und als ich noch mehr tote Fische erblicke, senke ich langsam die Kamera. Vielleicht hat der Angler von vorhin die kleinen Fische als Köder benutzt und sie danach liegengelassen? Ich habe diesen Gedanken noch nicht einmal zu Ende gedacht, da entdecke ich weitere tote Fische, immer mehr. Überall liegen sie an der Grenze zwischen Wasser und Steinen, dort, wo sich die letzte Flut gerade erst zurückgezogen hat. Langsam und mit immer grösser werdendem Entsetzen hebe ich den Blick: Vor mir liegt ein ganzes silbernes Band, das sich der Wassergrenze entlang bis zum Horizont hinzieht - es ist ein Band aus Hunderten, ja Tausenden kleiner, toter Heringe! Jetzt denke ich gar nichts mehr, mein Magen zieht sich zusammen und ich will nur noch weg von hier. Ich würde gern jemanden fragen, von meinen grausigen Fund berichten, doch da ist niemand mehr weit und breit.





Selbst jetzt noch, im Abstand von fast zwei Monaten, wird mir mulmig. Das Bild all dieser toten Fische lässt mich nicht mehr los. Irgendwann beginne ich, nach "poissons morts" und "Étretat" zu googlen. Und tatsächlich, ich werde schnell fündig: Genau am gleichen Tag, am 3. September, sind Hunderte von Merlanen am Strand im nicht weit entfernten Le Havre verendet. Allerdings schon drei Jahren vorher, 2014. Die Behörden haben über die Ursache dieses "makaberen Fundes" gerätselt. Ein Fall von Wasserverschmutzung wurde damals ausgeschlossen, weil dann nicht nur eine Fischart, sondern noch andere Meerestierarten betroffen gewesen wären. Möglicherweise habe ein Fischerboot die Fische als 'Ausschussware' (Beifang), da zu klein, ins Meer geworfen, oder einen Teil seines Fangs verloren. Das waren auch meine Gedanken am Strand von Étretat.
Ich google weiter und stosse auf Artikel aus der ganzen Welt, die von ähnlichen Phänomenen berichten. Alle stellen sich die gleichen Fragen, stellen ähnliche Vermutungen an, aber niemand kann sich das genau erklären. Ein Journalist aus Costa Rica bringt den dortigen Vorfall in einen möglichen Zusammenhang mit Walen, die am Tag zuvor in Neuseeland gestrandet und verendet sind.

Die Journalistin des France3-Artikels beendet ihren Bericht über den Vorfall in Le Havre 2014 mit den Worten: "Anschliessend haben Möwen den Strand gesäubert. Bis zum heutigen Tag wurde keine Untersuchung über diesen überraschenden Vorfall geführt..."


Sonntag, 22. Oktober 2017

Fotoreise in die Normandie - Claps

Claps, ausgesprochen wie Klaps, aber mit einem weicheren K, eher wie Klops als Klaps, heisst im Friaulischen, der Muttersprache meiner Mutter, Steine. Der Strand von Étretat besteht aus Claps.





Die Kiesel am Strand von Étretat sind gross, so gross wie Eier, manche auch etwas kleiner, wie überdimensionierte Wachteleier. Das Gehen auf diesen Steinen ist mühsam, das stelle ich gleich am ersten Tag fest, als ich barfuss über diesen Strand zu gehen versuche. Ich finde keinen Halt, die Steine weichen unter meinem Gewicht, neigen sich zur Seite, rollen unter meinen Füssen weg. Ich torkle wie eine Betrunkene, sinke ein wie in Treibsand. Nur dass es kein Sand ist, sondern Tausende, ja Millionen von Kieseln, gross, hart und rund. Rundgeschliffen vom Meer. Ich habe an keinem einzigen eine Ecke, scharfe Kante oder auch nur eine kleine Spitze entdeckt. Es sind Steine, wie in man sie eher in einem Flussbett in gewissen Gebirgstälern im Süden findet, zum Beispiel im Tessin oder im Friaul, als am Meer.



Ich erinnere mich jetzt noch an das Geräusch der Steine in der Brandung: Einzelne "claps", wie das Zusammenschlagen zweier Billardkugeln, kurz und sec, wenn die Welle aufs Ufer trifft. Eine immer grösser werdende Anzahl von "claps-claps-claps", wenn sich die Welle am Ufer zu brechen beginnt. Bis ich zum Schluss keine einzelnen "claps" mehr unterscheiden kann, weil sie in einen lauten, monumentalen Chor übergehen und sich in einem einzigen, steinernen Rauschen vereinigen. Dann hört es sich an, als ob ein Riese einen Sack voller Murmeln über den Strand ausleeren würde.

An der Uferpromenade fallen mir die häufigen Verbotsschilder auf. Sie zeigen eine Hand, die mit Daumen und Zeigefinger ein schwarzes Oval aufheben will. Das schwarze Oval, "Galets", darf man auf keinen Fall mitnehmen, strengstens verboten unter Androhung einer Busse von 90 Euro. Lange rätsle ich, was dieses Oval wohl darstellen soll. Die Kiesel können ja wohl kaum damit gemeint sein... 90 Euro für einen Kieselstein, von denen es hier eine unendliche Anzahl zu geben scheint? Aber was sonst? Vielleicht Möweneier? Ich staune nicht schlecht, als ich später nachschaue: Galets heisst tatsächlich Kieselsteine. Das Rätsel klärt sich weiter, als ich auf einer ausführlicheren Infotafel die Erklärung nachlese: Die Kiesel haben eine wichtige Funktion. Sie schützen die Küste vor Erosion durch das Meer, weil hier die Brandung eine ungeheure Wucht haben kann.



Die Felsen bestehen aus Kreide und Feuerstein. Kreide ist weich und porös, Feuerstein sehr hart. Der Fels erodiert durch den Regen, Gesteinsbrocken fallen runter ans Ufer. Das Meereswasser wäscht die Kreide aus, zurück bleibt der harte Feuerstein, der in der Brandung rundgeklopft wird. Wie lange es wohl dauern mag, bis aus einem Felsbrocken ein so perfekt abgerundeter Kiesel entsteht?


Die Kiesel sind einzigartig, faszinierend, wunderschön. Von weitem sehen sie alle unauffällig und ähnlich aus. Eine Masse an weissen Rundsteinen eben. Doch als ich mir die Zeit nehme und genauer hinschaue, merke ich, dass jeder anders ist: der eine hat ein kreisförmiges, rostfarbenes Muster, der andere blass-lila Einschlüsse, ein dritter mit zwei schneeweissen Kreisen sieht aus der Kopf einer Eule. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, entdecke immer wieder neue. Jeder ist ganz besonders schön, feingeschliffen, abgerundet. Keiner ist wie der andere, und jeder ist in sich vollendet. Ich möchte sie am liebsten alle mitnehmen. Jetzt verstehe ich die Verbotsschilder. Wenn man anfängt zu schauen und zu sammeln, entdeckt man immer noch mehr, noch speziellere, noch schönere.


Und was antwortet der Fotokünstler auf meine Frage, was ich ihm denn mitbringen soll: die leckeren Kekse, eine einheimische Spezialität hier? Oder einen Calvados, ich habe sogar einen in Bio-Qualität entdeckt? "Nein, mach dir bitte keine Umstände, bring mir doch einfach einen Stein mit!"


Sonntag, 15. Oktober 2017

Fotoreise in die Normandie - Ankunft in Étretat

Während bei uns bereits der Herbst eingebrochen war mit einem Wetter, das eher zum November als zu Anfang September passte, hat mich die Normandie mit einem strahlenden, warmen Spätsommertag empfangen.



Ich hatte lange mit mir gerungen, ob ich überhaupt an dieser Fotoreise teilnehmen sollte. Die weite, komplizierte Anreise mit Taxi, Zug und Bus, zum ersten Mal seit langem wieder alleine unterwegs, das viele Geld, das "nordische" Wetter, die ungewisse Rückreise - das alles bereitete mir Sorgen. In meiner Jugend und auch noch mit vierzig wäre ich die Reise freudig und voller Tatendrang angegangen, doch würde ich das jetzt mit über fünfzig auch noch schaffen? Anderseits waren im Reiseprogramm all die Orte aufgeführt, die ich schon lange einmal sehen wollte: Der Mont-Staint-Michel, die historischen Stätten des D-Days, die Klippen, die auf französisch so viel schöner klingen: "Les Falaises". Dann auch noch Giverny mit Haus und Garten von Claude Monet und die kleinen Städtchen und Fischerdörfer in einer Landschaft, von der ich bereits mit zwanzig geträumt hatte.
Damals stand ich auf der gegenüberliegenden Seite des Meeres. Ich hatte mir zum Abschluss meines Au-Pair-Aufenthalts in London noch ein paar Tage Ferien gegönnt und bin der Küste Cornwalls entlanggewandert. Auch auf der englischen Seite gibt es einen St. Michael's Mount, gibt es pittoreske Fischerdörfer und schmucke Städtchen, auch dorthin reisten viele Maler, weil sie von Küste und Licht magisch angezogen wurden. Aber das Original, schien mir, lag dennoch auf der anderen, der französischen Seite des Ärmelkanals. Da würde ich auch einmal gerne hinreisen, wünschte ich mir.
Deshalb habe ich mich jetzt, trotz allen Bedenken und Zweifel, angemeldet. Und natürlich hat es sich gelohnt! Es lohnt sich immer, und sei es nur, um über seine Ängste zu siegen. Vor allem deswegen. Aber auch sonst war diese Reise äusserst reichhaltig und lohnenswert. Die Fotoreise wurde von der Leica Akademie angeboten und vom Fotografen Oliver Vogler geleitet.  

Am Hang oben das wunderbare Hotel "Dormy House" in Étretat, wo wir gewohnt haben.


Das Wetter war so trist bei uns, dass ich das Bikini fast zu Hause gelassen hätte. Aber Meer ist Meer und man kann nie wissen. Also packte ich es im letzten Moment doch noch in den Koffer. Zum Glück! Denn das erste Highlight der Reise - vielleicht das wichtigste überhaupt - erwartete mich gerade mal knapp eine halbe Stunde nach meiner Ankunft im Hotel. 



Ich spüre jetzt noch, wie mich das klare Wasser empfängt, als ich ungelenk über die grossen Kieselsteine fast schon ins Meer hineinstolpere, wie angenehm erfrischend und sanft zugleich es sich auf der Haut anfühlt. In einem Augenblick sind die ganze Anspannung und Müdigkeit der langen Reise weggewaschen. Wer hätte gedacht, dass es im Norden schöner und wärmer ist als im Süden! Und dass ich heuer noch einmal im Meer baden würde! Ein tiefes Glücksgefühl erfüllt mich. Auch nachher, als ich mich auf den Steinen sitzend von der Sonne trocknen lasse, weiss sich, dass sich die weite Reise jetzt schon gelohnt hat. 




Das Bad im Meer hat mich ebenfalls Überwindung und Mut gekostet - "Und wenn es kalt ist? Was werden die Leute denken? Lohnt sich der ganze Aufwand überhaupt? Wäre es nicht vernünftiger, erst mal in Ruhe anzukommen und auszupacken?" usw. Auch dieses Überwinden hat sich voll gelohnt. Stolz, Spass und Freude erfüllen mich, als ich am Strand sitze und übers Meer schaue. Ich weiss, dass es richtig und wichtig war, mich für diese Reise und auch für das Bad im Meer zu entscheiden, trotz all meiner Zweifel und Bedenken. Es sind Momente wie diese, die sich tief in mein Herz und meine Gedächtnis einprägen, und die mir später einmal Mut machen werden, wenn meine Ängste wieder überhandnehmen wollen.




Übrigens war es für den ganzen Rest meines Aufenthalts in der Normandie nie mehr so heiss, dass man hätte baden können.

Sonntag, 24. September 2017

Spaziergang in Weisslingen - Fotografie beruhigt

Sonne beruhigt auch. Wenn ich mit geschlossenen Augen an der Sonne sitze, ihre Wärme auf meinem Gesicht spüre, werde ich  augenblicklich entspannt, ruhig und versöhnt. Spazierengehen beruhigt mich auch, Meditieren ebenfalls. Andere beruhigt Sport. Manche malen oder singen oder fahren mit dem Auto durch die Gegend. Manche arbeiten im Garten oder am Computer. Fotografieren beruhigt mich, weil es mich zentriert. Weil es den Fokus von mir nimmt und auf etwas anderes richtet. Es lenkt mich ab und erfüllt mich gleichzeitig mit positiver Energie.



“Vom Älterwerden und verpassten Gelgenheiten”, so hätte ich diesen Blogpost auch nennen können. Derzeit hadere ich mit Gelegenheiten, auf die ich verzichten musste. Wie gestern, als ich, anstatt mit Freundinnen im Chinagarten zu fotografieren, den halben Tag mit dem Kater im klimatisierten Warteraum des Tierspitals verbracht habe. Dabei hatte ich mich so auf den Fototag gefreut, das Wetter war perfekt und es hätte mir so gut getan! Aber dem Kater ging’s schlecht, und so habe ich mich für ihn entschieden. Vorletztes Wochenende musste ich die Klassenzusammenkunft absagen, weil es mir einfach zu schlecht ging. Nachher ging’s mir noch schlechter, weil ich wusste, dass es in den kommenden 10 Jahren bestimmt kein Klassentreffen mehr geben würde. Verpasste Gelegenheiten solcher Art gab es in diesem Jahr so einige. Und jedesmal habe ich mich gegrämt, weil ich absagen musste. Teilweise hat’s mich fast wahnsinnig gemacht. Oft waren es einmalige Ereignisse, auf die ich mich lange und sehr gefreut hatte, und die so nicht mehr - nie mehr! - wiederkommen würden. Je älter ich werde, desto bewusster spüre ich, wie das Leben an mir vorbeirast mit seinen vielen Möglichkeiten, und ich nur einige davon erhaschen kann, auch wenn ich sie doch gerne alle ergreifen möchte. Damit habe ich im Moment unglaubliche Mühe: zu verzichten, loszulassen und dabei zu vertrauen, mich richtig entschieden zu haben.

 Meistens haben verpasste Gelegenheiten mit eigenen Entscheidungen zu tun. Ich kann mich nicht mit einer Freundin zum Kaffeetrinken in der Stadt treffen und mir gleichzeitig einen erholsamen Sonntagnachmittag im Liegestuhl machen. Ich kann nicht auf eine Wanderung gehen und gleichzeitig mit Krimi und Kater auf dem Sofa entspannen. Ich kann nicht gleichzeitig sportlich marschieren und kontemplativ fotografieren gehen, kann nicht dem Kater gut schauen und ständig verreisen. Ich muss mich jedes Mal für eine Variante entscheiden. Beide Varianten sind gut, aber beides gleichzeitig geht nicht. Und jedes Mal, wenn ich mich für etwas entscheide, entscheide ich mich gleichzeitig gegen etwas anderes. Und manchmal ist dieses “etwas anderes” etwas Einmaliges und Unwiederholbares, dem ich lange nachtrauere, vielleicht sogar bis an mein Lebensende.



“Du brauchst dich nicht darüber aufregen, es kommen noch andere Gelegenheiten”, versucht mich mein Guru zu beruhigen, “du hast die richtige Entscheidung getroffen. Das hat alles seinen Sinn. Du musst dir nur überlegen, was dir das sagen, dich das lehren will.” - “Und was zum Beispiel?” frage ich missmutig zurück. “Was weiss denn ich, bin ich etwa Jesus? Das musst du schon selber herausfinden."



In Miksang, der kontemplativen Fotoschule, durch die ich gegangen bin, war Loslassen etwas vom Ersten und Klügsten, was wir gelernt haben. Wenn wir es einfach nicht schafften, ein Motiv so abzubilden, wie wir es gesehen hatten - weil es zu weit weg war, das Licht nicht stimmte oder wir die Kamera nicht dabei hatten - dann kam eine der wichtigsten Miksang-Regeln zum Tragen: "Let go!" Wir versuchen es nicht krampfhaft weiter und ärgern uns auch nicht, sondern lassen los und ziehen weiter. "Denn jeder Moment ist einzigartig - aber es gibt unendlich viele Momente".
Was in der Fotografie stimmt, stimmt auch im Leben: Jeder Moment ist einzigartig und kommt so nie wieder. Aber: Es gibt unendlich viele Momente, ja das ganze Leben besteht aus einer unerschöpflichen Reihe an einzigartigen Momenten.
Dass jeder Moment einzigartig und unwiederholbar ist, spüre ich ganz stark. Dass es aber unzählige dieser einzigartigen Momente gibt, vergesse ich viel zu oft. Dafür fehlt mir noch das Vertrauen, die Gelassenheit und die Weisheit des Alters. Und wahrscheinlich ist es genau das, was ich lernen muss.


Mittwoch, 23. August 2017

August Blues

Schon vorbei? Die langen, lauen Sommernächte, an denen wir mit einem Glas Wein im Garten sassen, haben doch gerade erst begonnen. Die Pläne, die wir schmiedeten, sind längst nicht fertig ausgeschmückt, und unsere Wünsche noch gar nicht alle ausgesprochen. Neue Freundschaften haben eben erst hoffnungsvoll begonnen, und an die alten Liebschaften haben wir uns gerade erst vertrauensvoll gewöhnt. Schon vorbei?

Jetzt ist es früh schon dunkel, und mit der Dunkelheit wird's kühl. Zu kühl, um lange draussen in der Nacht zu sitzen. Und dunkel ist es auch am Morgen. Vorbei die Tage, an denen wir um fünf Uhr in der Früh dem morgendlichen Vogelkonzert draussen lauschten. Die Vögel zwitschern jetzt nicht mehr im Garten. Und auch im Wald ist es nun still. Die Blüten haben sich in Beeren verwandelt, und diese sind schon dunkelrot gereift. Herbstzeitlosen blühen auf der Lichtung, goldenes Herbstlicht erfüllt den Tag. Erste Bäume verfärben sich und lassen ihre Blätter fallen. Die Sonne hat an Kraft eingebüsst und schafft es nur noch selten, den Dunst, der in der Luft liegt, wegzubrennen.



"Der Herbst kann aber auch sehr schön sein", sagt man mir. Ja klar, der Herbst kann auch sehr schön sein.


Sonntag, 28. Mai 2017

Vom Älterwerden - alles gut?

Letzhin traf ich meinen Nachbarn Rolf im Garten. Ich grüsste ihn und fragte beiläufig: "Und, wie läuft's,  alles gut bei dir?" Rolf überlegte eine Zeitlang, schaute ins Grün hinaus und antwortete dann nachdenklich: "Ist jemals alles gut?"


Es gab einmal eine Zeit, als ich dachte, jetzt sei endlich alles gut: das Studium abgeschlossen, meinen ersten Vollzeitjob, frisch verheiratet, unsere erste "richtige" Wohnung. Endlich war alles gut. Und ich hegte keinen Zweifel daran, dass das von nun an auch so bleiben würde. Natürlich wurde ich eines Besseren belehrt und lernte, dass es den Zustand "immer alles gut" nur in Märchen, Hollywood-Filmen und Illusionen gibt, dass aber im wirklichen Leben nichts von Dauer ist, auch Happy Ends nicht.

Mittwoch, 17. Mai 2017

Spaziergang in Weisslingen - Schnecken

Auf meinem Spaziergang durch den Wald kreuzen heute immer wieder Weinbergschnecken meinen Weg. Meist sind es grosse, makellose Tiere mit wunderschönen, geschwungenen Häusern auf ihrem Rücken. Nur einmal entdecke ich auch eine junge Schnecke, fast hätte ich sie mit einem Kieselstein verwechselt.



Andauernd überqueren sie die Waldstrasse. Und alle sind sie von rechts und nach links unterwegs. Hat das etwas zu bedeuten, oder ist es reiner Zufall? Ist es vielleicht wetterbedingt?

Warum wollen all die Schnecken überhaupt auf die andere Strassenseite? Was glauben sie auf der linken Seite zu finden, was es auf der rechten nicht auch gäbe?

Wissen sie denn nicht, dass sie sich damit in Lebensgefahr begeben? Ahnen sie es, oder sind sie völlig sorglos in ihrem ruhigen Gleiten? Ich traue mich schon kaum mehr aufzusehen aus Sorge, ich könnte eine zertreten. 



Der ersten helfe ich noch auf die andere Seite, dann lasse ich es bleiben. Was weiss denn ich, ob sie wirklich rüber wollen, und was ihr wirkliches Ziel ist? Oder ob es ums Fortbewegen selber geht? Ob es vielleicht wichtig ist, einfach nur über Kieselsteine und Erde zu rutschen? 


Später finde ich an einer Stelle gleich eine ganze Anhäufung von Weinbergschnecken. Ein paar sind tot, einige Schneckenhäuser sind leer.  Eine klebt an einem Baumstumpf, mir ist nicht klar, ob sie gesund ist oder nicht. Ein paar kriechen im Gras herum. Was ist das für eine Versammlung? Ein Schneckentreffen zur Paarungszeit? Die Überreste eines Festmahls? Wer frisst denn eigentlich Weinbergschnecken - der Fuchs, Igel, Vögel? Grosse Vögel wie Krähen, oder auch kleinere?


Ich merke, dass ich vom Leben dieser Tiere, die mir seit je her immer wieder begegnen, keine Ahnung habe. Und dann höre ich auf das vielstimmige Vogelstimmenkonzert in den Baumkronen, und schaue die Wolken im Wind, und denke an die vielen Tiere unter der Erde, und an die immense Unterwasserwelt, in die ich beim Tauchen einen winzigen Einblick bekommen habe - und ich merke, dass ich von all der Vielfalt an Leben und Parallelwelten keine Ahnung habe, dass das oberflächliche Schul- und Wikipediawissen nicht mal an der Oberfläche dieser schieren Unendlichkeit und Vielfältigkeit kratzt. Alles Wissen kann das Mysterium des Lebens nicht erfassen. 
Und dann schaue ich wieder auf die kleinen Schnecken mit ihren perfekten Häusern, ihrem lautlosen Gleiten, dem faszinierenden Muster auf ihrer Haut, den wunderlichen Augen an den langen Stielen. Und für einen Moment streift mich der Hauch einer Ahnung vom Wunder des Lebens, von seiner Grenzenlosigkeit und Unfassbarkeit. 



Während ich wie eine Ameise meinen Wegen im Alltag folge, verstrickt in meinen Alltagssorgen und mich als Mittelpunkt meiner kleinen grossen Welt wähne, vergesse ich doch immer wieder, wie viel Unendlichkeit, Raum und Vielfalt mich eigentlich umgibt.


Sonntag, 30. April 2017

Frühling - (halber) Spaziergang in Weisslingen

Nicht der Spaziergang war halb, doch ungefähr in der Mitte hat sich der Akku meiner Kamera geleert, und einen Ersatzakku habe ich nicht mitgenommen. Den Ärger darüber lasse ich aber schnell wieder los und beschliesse, die schönen Eindrücke um mich herum einfach "nur" wahrzunehmen und zu geniessen. Es lässt sich ohnehin nicht alles mit der Kamera einfangen.



Die schiere Mannigfaltigkeit der Vogelstimmen zum Beispiel nicht, die mich vom Beginn weg begleitet: fröhliches Gezwitscher am Waldrand, flötende Melodien im Wald, kehliger Gesang auf der Anhöhe, spitze Schreie über dem Feld, krächzen in den Baumkronen, schnattern am Teich und viele mehr. Mein Wortschatz ist zu beschränkt, um diese ganze Vielfalt an Tönen widerzugeben, die jetzt den Himmel erfüllen.



Die Schmetterlinge, die auf dem Weg vor mir herflattern, ebensowenig. Auch wenn ich sie auf ein Foto bannen könnte, ihr zartes Wesen könnte ich nicht einfangen. Und ist es aber nicht gerade das, was mich am Schmetterling berührt, seine sanfte Schwerelosigkeit, sein verspielter Tanz im Lufthauch, seine berührende Zerbrechlichkeit und Flüchtigkeit?


Gerne würde ich auch all die anderen Tiere um mich herum fotografieren, doch die meisten kann ich ja noch nicht einmal sehen. Selbst der Frosch, der bei meinem Herannahen ins Gras springt, sehe ich nicht mehr. Und dabei weiss ich doch, dass er da ist, unmittelbar vor meinen Augen. Doch mein Sehsinn ist begrenzt und er ist Meister der Tarnung.
Ich weiss, dass auch andere Tiere da sind, weil ich sie höre. Überall rascheln sie: laut, frech und unbekümmert die Vögel, kaum hörbar hingegen die grösseren Tiere, Rehe zum Beispiel oder Wildschweine. Meist verrät sie nur ein einzelnes, kurzes, leises Knacken, gefolgt von absoluter Stille. Wie jetzt, im Dickicht jenseits des Baches. Ich kann nur erahnen, dass ich ein grösseres Tier überrascht haben muss, sicher bin ich mir nicht. Ich warte vollkommen still, konzentriert und ganz Ohr. Ich möchte es sehen, aber ich weiss, dass sich das Tier, sobald es sich vom ersten Schrecken eingefangen hat, vollkommen lautlos fortbewegen wird. Doch dann, ein kurzes, helles Aufblitzen zwischen den dunklen Tannen - die Reflexion des Sonnenlichts im Fell - verrät mir den weglaufenden Fuchs. Nur für den Bruchteil eines Augenblicks sehe ich ihn, dann löst sich die Erscheinung auf und der Fuchs wird wieder eins mit dem Wald. Kein Foto kann den Zauber solcher Momente je widergeben.



Ich verlasse jetzt den Hauptweg und folge dem versteckten Trampelpfad zur Waldlichtung. Wie ein Spalier umsäumen Jungbäume den Weg, frisch, hell und zart leuchtet das Grün ihrer Blätter. Wie federnd weich geht es sich auf dem Waldboden. Das Laub, das ihn bedeckt, ist mittlerweile zu einem Teppich aus kleinsten Bröseln zerfallen. Dann erreiche ich die kleine Lichtung, und auf einmal ist es vollkommen still, kein Zwitschern, kein Knacken, kein Rascheln. Ich bleibe stehen, schaue mich um, horche. Diese plötzliche Stille ist fast schon etwas unheimlich. Ich fühle mich in einer anderen Welt, auf einem verlassenen Planeten, umgeben von nichts als undurchdringlichem Wald. Und gleichzeitig fühlt es sich an, als ob tausend Augen mich beobachten würden. Das tun sie sicher: eine ganze Tier- und Pflanzenwelt beobachtet mich hier. Auch wenn ich mich noch so lautlos zu bewegen meine, sie wissen alle längst Bescheid.



Diese kurzen, zauberhaften Momente sind es, die mir bleiben, und gerade diese sind es auch, die ich fotografisch so nicht festhalten kann, und die ich auch nicht in Worte fassen kann. Meine Worte und Bilder kommen mir plump vor dagegen. Ich kann den Bach fotografieren, aber sein verspieltes Gurgeln nicht, auch nicht das erfrischende Plätschern des kleinen Wasserfalls widergeben, wo mir der Fuchs erschienen ist.



Ich verlasse den Wald und mache mich auf den Rückweg. Auf der Wiese empfängt mich das Zirpen von Zikaden - jetzt schon? Es hört sich an wie Sommer und ist doch erst April. Die Zweige und Äste sind noch gut sichtbar und noch nicht ganz von Blättern verdeckt. Wie lange noch? Die neuen Blätter wachsen schnell. Bald werden sie Baumkronen und Büsche gänzlich eingehüllt haben. Ungeachtet der wiederkehrenden Wintereinbrüche schreitet der Frühling unbeirrt voran.


Nur ein einziges Mal reut mich der fehlende Akku wirklich: So gern hätte ich versucht, das unfassbar strahlende, intensiv leuchtende Gelb des Rapsfeldes einzufangen, ein Farbton, für den es keine Worte gibt. Kein Gelb ist so unglaublich einzigartig gelb wie das von blühenden Rapsfeldern an einem schönen Frühlingstag wie diesem.