Sonntag, 29. Oktober 2017

Fotoreise Normandie - ein grausiger Fund



Auf meinem Spaziergang am Strand von Étretat bin ich schon fast am östlichen Felsentor angelangt. Das Wetter hat umgeschlagen, es sieht aus, als ob es bald regnen würde. Die anderen Strandspaziergänger sind bereits ins Dorf zurückgekehrt, und auch der Fischer packt jetzt sein Angelzeug zusammen. Diese gewaltige, weite Landschaft aus Felsen, Wasser und Luft habe ich jetzt ganz für mich.



Weiter hinten entdecke ich eine Ansammlung von Möwen. Ich möchte sie fotografieren und nähere mich ihnen langsam und vorsichtig, um sie nicht zu verscheuchen. Doch sie scheinen mich gar nicht zu bemerken. Sie sind ganz mit sich und ihrem Tun beschäftigt.



Nun drehe auch ich um und mache mich langsam auf den Rückweg, den Blick nach unten gesenkt auf der Suche nach Strandgut und schönen Kieselsteinen. Strandgut hat es kaum, doch mitten in den Kieseln glänzt etwas silbern. Als ich genauer hinschaue, entdecke ich die Schwanzflosse eines toten Fisches. Der Fisch ist klein und scheint noch nicht lange tot zu sein. Vielleicht ein junger Hering? Gleich daneben entdecke ich eine tote Qualle. Auch sie sieht aus, als sei sie noch nicht lange tot.





Nach ein paar Schritten entdecke ich einen weiteren toten Fisch, dieselbe Art wie vorhin. Silber-grau glitzert er inmitten der matten Kieselsteine. Mit seinem grossen, schwarzen Auge schaut er mich direkt an, klar und ungetrübt ist sein Blick.




Und gleich daneben liegt noch einer. Und dann noch einer. Und als ich noch mehr tote Fische erblicke, senke ich langsam die Kamera. Vielleicht hat der Angler von vorhin die kleinen Fische als Köder benutzt und sie danach liegengelassen? Ich habe diesen Gedanken noch nicht einmal zu Ende gedacht, da entdecke ich weitere tote Fische, immer mehr. Überall liegen sie an der Grenze zwischen Wasser und Steinen, dort, wo sich die letzte Flut gerade erst zurückgezogen hat. Langsam und mit immer grösser werdendem Entsetzen hebe ich den Blick: Vor mir liegt ein ganzes silbernes Band, das sich der Wassergrenze entlang bis zum Horizont hinzieht - es ist ein Band aus Hunderten, ja Tausenden kleiner, toter Heringe! Jetzt denke ich gar nichts mehr, mein Magen zieht sich zusammen und ich will nur noch weg von hier. Ich würde gern jemanden fragen, von meinen grausigen Fund berichten, doch da ist niemand mehr weit und breit.





Selbst jetzt noch, im Abstand von fast zwei Monaten, wird mir mulmig. Das Bild all dieser toten Fische lässt mich nicht mehr los. Irgendwann beginne ich, nach "poissons morts" und "Étretat" zu googlen. Und tatsächlich, ich werde schnell fündig: Genau am gleichen Tag, am 3. September, sind Hunderte von Merlanen am Strand im nicht weit entfernten Le Havre verendet. Allerdings schon drei Jahren vorher, 2014. Die Behörden haben über die Ursache dieses "makaberen Fundes" gerätselt. Ein Fall von Wasserverschmutzung wurde damals ausgeschlossen, weil dann nicht nur eine Fischart, sondern noch andere Meerestierarten betroffen gewesen wären. Möglicherweise habe ein Fischerboot die Fische als 'Ausschussware' (Beifang), da zu klein, ins Meer geworfen, oder einen Teil seines Fangs verloren. Das waren auch meine Gedanken am Strand von Étretat.
Ich google weiter und stosse auf Artikel aus der ganzen Welt, die von ähnlichen Phänomenen berichten. Alle stellen sich die gleichen Fragen, stellen ähnliche Vermutungen an, aber niemand kann sich das genau erklären. Ein Journalist aus Costa Rica bringt den dortigen Vorfall in einen möglichen Zusammenhang mit Walen, die am Tag zuvor in Neuseeland gestrandet und verendet sind.

Die Journalistin des France3-Artikels beendet ihren Bericht über den Vorfall in Le Havre 2014 mit den Worten: "Anschliessend haben Möwen den Strand gesäubert. Bis zum heutigen Tag wurde keine Untersuchung über diesen überraschenden Vorfall geführt..."