Montag, 13. April 2015

Ostersonntag am Greifensee


Die Ostertage verbringe ich mit dem Fotokünstler. Obwohl ich mich sehr auf seinen Besuch freue, sehne ich mich auch nach Ruhe und Erholung. Ich fühle mich ausgelaugt und erschöpft: Frühlingsmüdigkeit? das Wetter? Stress bei der Arbeit? das Alter? die Zeitumstellung? Wahrscheinlich all das zusammen und noch einiges mehr.



Am frühen Ostersonntag fahren wir nach Greifensee, wie vorletztes Jahr schon. Wie damals ist es auch heute kalt, grau und windig. Sonne und dunkle Wolken jagen einander, ein bissiger Wind peitscht das Wasser auf und bläst durch sämtliche Kleidungsschichten. Richtiges Aprilwetter. Später höre ich jemanden rufen: "es schneit!" Ich schaue hoch, erstaunt: Tatsächlich. Mittlerweile hat der Schnee jedoch seine fröhliche Sanftheit eingebüsst. Wie spitze Geschosse fällt er jetzt in kleinen, eisigen Flocken vom grauen Himmel. Richtig freuen tut sich darüber keiner mehr.


Heute zieht es mich zum Ungeordneten, Chaotischen, Rauen hin. Ich erkenne es überall. Es entspricht dem Wetter, und es entspricht meiner Stimmung: unruhig, unfreundlich, fad - "edgy", wie die Amerikaner sagen. Wenn ich mich so fühle, sollte nicht unter Menschen gehen. Ich sollte mich zurückziehen, bis meine Gedanken und Gefühle zur Ruhe gekommen sind, sich die innere Anspannung gelöst hat und ich wieder in meinem Gleichgewicht bin. Doch nun bin ich hier.



Alles ist am Seeufer versammelt, wo es auch uns hinzieht. Unter den Wasservögeln, die sich in Ufernähe versammelt haben, geht es wild zu und her. Da wird gebalzt und gekämpft, gestritten um Revier und Brotbrocken. Ich scheine also nicht die einzige zu sein, die unter Spannung steht. Irgendwie beruhigt mich das. Vielleicht ist es ja doch nur die Jahreszeit.



Inmitten dieser ganzen Unruhe steht majestätisch ein Schwan. Er ist der einzige, der alleine da ist, alle anderen sind in Paaren oder Gruppen. Unberührt und unbeeindruckt steht er am Ufer und putzt sich gelassen das strahlend weisse Gefieder, als ob ihn der ganze Trubel nichts anginge. Und als er fertig ist, lässt er sich lautlos ins Wasser gleiten und segelt ruhig und erhaben davon.



Am Ufer spielen ein paar Kinder. Auch sie betrachten das hektische Treiben der Enten und Blässhühner und bewundern aus respektvollem Abstand den Auftritt des Schwans. Ich beobachte sie, doch sie bemerken mich nicht. Sie sind völlig vertieft im Moment und in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt. Nur die Tiere und das Wasser zählen. Sie scheinen die Kälte nicht zu spüren und stören sich nicht am wechselhaften Aprilwetter. Auch so kann man also mit dem Wetter umgehen: es zur Kenntnis nehmen, ohne ihm viel Gewicht beizumessen.
Ich schaue fasziniert zu, wie sie so im Augenblick versunken sind, dass sie alles rundherum vergessen. Ich weiss, dass es Zeiten gibt, da auch mir das gelingt. Im Moment ist mir das kein Trost. Doch vielleicht sollte ich dem auch kein grosses Gewicht beimessen?


Wir spazieren weiter dem Seeufer entlang. Nach wenigen Schritten finden wir eine Landzunge, versteckt zwischen Bäumen und Schilf. Der Fotokünstler fotografiert weiter drüben auf dem Bootssteg. Ich stehe einfach nur still da in der Geborgenheit meines Verstecks. Ich bemerke, wie sich die innere Anspannung langsam zu lösen beginnt. Ich werde ruhiger, entspannter. Mein Körper, meine Gedanken und meine Gefühlen scheinen sich zu synchronisieren und wieder eins zu werden. Wie durch Zauberhand - oder vielleicht durch das Fotografieren, die Natur, das Beobachten der Vögel und der Kinder? Wer weiss, vielleicht sind es ja doch die kleinen Dinge, die unbemerkt die grösseren Veränderungen herbeiführen.


Jetzt erst kann ich mich wieder öffnen und zunehmend einlassen auf die Welt, die mich umgibt. Ich spüre, wie weich der Boden unter meinen Füssen ist, und wie frisch sich die Luft auf meiner Haut anfühlt. Die kühle Temperatur stört mich jetzt nicht mehr. Und in dieser Ruhe beginne ich wieder, die Welt um mich herum frisch und direkt wahrzunehmen.



Ohne mich von der Stelle zu bewegen, kommen nun die Motive auf mich zu: Das Schilf, das sich im Wasser spiegelt - wo hört es auf, und wo beginnt seine Spiegelung? Die intensiven Veränderungen der Farben im rasch wechselnden Licht des Aprilwetters. Die sich kräuselnde Wasseroberfläche im Wind. Das intensive Grün des bemoosten Baumstamms. Die tief zerfurchte Rinde, die mich an Haut im Alter erinnert. Ich kann ihre raue Oberfläche mit den Augen spüren.


Fasziniert schaue ich dem Treibgut zu, das sich in den Wellen hin und her bewegt, und nach längerem Beobachten erkenne ich plötzlich eine Ordnung im Chaos, sehe Muster im Zufälligen und bin berührt von der Schönheit des Unscheinbaren.


Und ab und zu schwimmt eine Ente oder ein Blässhuhn vorbei, auf mich zu, hält inne, und wir schauen uns neugierig und furchtlos in die Augen.