Sonntag, 24. September 2017

Spaziergang in Weisslingen - Fotografie beruhigt

Sonne beruhigt auch. Wenn ich mit geschlossenen Augen an der Sonne sitze, ihre Wärme auf meinem Gesicht spüre, werde ich  augenblicklich entspannt, ruhig und versöhnt. Spazierengehen beruhigt mich auch, Meditieren ebenfalls. Andere beruhigt Sport. Manche malen oder singen oder fahren mit dem Auto durch die Gegend. Manche arbeiten im Garten oder am Computer. Fotografieren beruhigt mich, weil es mich zentriert. Weil es den Fokus von mir nimmt und auf etwas anderes richtet. Es lenkt mich ab und erfüllt mich gleichzeitig mit positiver Energie.



“Vom Älterwerden und verpassten Gelgenheiten”, so hätte ich diesen Blogpost auch nennen können. Derzeit hadere ich mit Gelegenheiten, auf die ich verzichten musste. Wie gestern, als ich, anstatt mit Freundinnen im Chinagarten zu fotografieren, den halben Tag mit dem Kater im klimatisierten Warteraum des Tierspitals verbracht habe. Dabei hatte ich mich so auf den Fototag gefreut, das Wetter war perfekt und es hätte mir so gut getan! Aber dem Kater ging’s schlecht, und so habe ich mich für ihn entschieden. Vorletztes Wochenende musste ich die Klassenzusammenkunft absagen, weil es mir einfach zu schlecht ging. Nachher ging’s mir noch schlechter, weil ich wusste, dass es in den kommenden 10 Jahren bestimmt kein Klassentreffen mehr geben würde. Verpasste Gelegenheiten solcher Art gab es in diesem Jahr so einige. Und jedesmal habe ich mich gegrämt, weil ich absagen musste. Teilweise hat’s mich fast wahnsinnig gemacht. Oft waren es einmalige Ereignisse, auf die ich mich lange und sehr gefreut hatte, und die so nicht mehr - nie mehr! - wiederkommen würden. Je älter ich werde, desto bewusster spüre ich, wie das Leben an mir vorbeirast mit seinen vielen Möglichkeiten, und ich nur einige davon erhaschen kann, auch wenn ich sie doch gerne alle ergreifen möchte. Damit habe ich im Moment unglaubliche Mühe: zu verzichten, loszulassen und dabei zu vertrauen, mich richtig entschieden zu haben.

 Meistens haben verpasste Gelegenheiten mit eigenen Entscheidungen zu tun. Ich kann mich nicht mit einer Freundin zum Kaffeetrinken in der Stadt treffen und mir gleichzeitig einen erholsamen Sonntagnachmittag im Liegestuhl machen. Ich kann nicht auf eine Wanderung gehen und gleichzeitig mit Krimi und Kater auf dem Sofa entspannen. Ich kann nicht gleichzeitig sportlich marschieren und kontemplativ fotografieren gehen, kann nicht dem Kater gut schauen und ständig verreisen. Ich muss mich jedes Mal für eine Variante entscheiden. Beide Varianten sind gut, aber beides gleichzeitig geht nicht. Und jedes Mal, wenn ich mich für etwas entscheide, entscheide ich mich gleichzeitig gegen etwas anderes. Und manchmal ist dieses “etwas anderes” etwas Einmaliges und Unwiederholbares, dem ich lange nachtrauere, vielleicht sogar bis an mein Lebensende.



“Du brauchst dich nicht darüber aufregen, es kommen noch andere Gelegenheiten”, versucht mich mein Guru zu beruhigen, “du hast die richtige Entscheidung getroffen. Das hat alles seinen Sinn. Du musst dir nur überlegen, was dir das sagen, dich das lehren will.” - “Und was zum Beispiel?” frage ich missmutig zurück. “Was weiss denn ich, bin ich etwa Jesus? Das musst du schon selber herausfinden."



In Miksang, der kontemplativen Fotoschule, durch die ich gegangen bin, war Loslassen etwas vom Ersten und Klügsten, was wir gelernt haben. Wenn wir es einfach nicht schafften, ein Motiv so abzubilden, wie wir es gesehen hatten - weil es zu weit weg war, das Licht nicht stimmte oder wir die Kamera nicht dabei hatten - dann kam eine der wichtigsten Miksang-Regeln zum Tragen: "Let go!" Wir versuchen es nicht krampfhaft weiter und ärgern uns auch nicht, sondern lassen los und ziehen weiter. "Denn jeder Moment ist einzigartig - aber es gibt unendlich viele Momente".
Was in der Fotografie stimmt, stimmt auch im Leben: Jeder Moment ist einzigartig und kommt so nie wieder. Aber: Es gibt unendlich viele Momente, ja das ganze Leben besteht aus einer unerschöpflichen Reihe an einzigartigen Momenten.
Dass jeder Moment einzigartig und unwiederholbar ist, spüre ich ganz stark. Dass es aber unzählige dieser einzigartigen Momente gibt, vergesse ich viel zu oft. Dafür fehlt mir noch das Vertrauen, die Gelassenheit und die Weisheit des Alters. Und wahrscheinlich ist es genau das, was ich lernen muss.