Sonntag, 13. Mai 2018

Orange

Als Mädchen war meine Lieblingsfarbe Rot. Eindeutig und ohne jeden Zweifel. Jeder hatte damals eine Lieblingsfarbe. Die gehörte so selbstverständlich zu einem wie die Wohnadresse oder das Geburtsdatum. Die Lieblingsfarbe der meisten war Rot oder Blau. Meine Klasse liess sich dadurch in ungefähr zwei gleich grosse Lager einteilen. An andere Lieblingsfarben kann ich mich nicht erinnern. Ich wüsste nicht, dass jemand Braun oder Gelb oder Orange als Lieblingsfarbe genannt hätte, nicht einmal Grün. Trotzdem hatte ich einen orangen Schülerthek. Aber wahrscheinlich nur, weil es keinen roten gab. Meiner Lieblingsfarbe Rot bin ich mein Leben lang treu geblieben.


Als Jugendliche hasste ich Rosa. Rosa war für mich der Inbegriff des angepassten, süssen Mädchens, das ich nicht sein wollte. Ich war dazu gebildet worden, mit dem eigenen Verstand zu denken, eine eigene Meinung zu haben, eigene Vorstellungen zu entwickeln und alles zu hinterfragen, was vorgegeben war - dazu gehörten auch die Rollenbilder, die der Frau sowieso. Wir waren die Erben der 68er und der Emanzipation. Rosa war das Gegenteil davon. Rosa klang nach Püppchen, nach Illusion, nach Hollywood-Märchen. Niemand in meiner Klasse, absolut niemand wäre je auf die Idee gekommen, ein rosafarbenes Kleidungsstück zu tragen. Zerrissene Jeans, dunkle, ausrangierte X-Large-Pullis des Vaters und Schwarz, das war unsere Farbe. Aber Rosa? Niemals!



Als Erwachsene hasste ich Orange. Orange war die Altfrauenfarbe schlechthin. Alle alten Frauen lieben Orange. Bunt müsse es sein, das sei doch so schön! "Die Welt ist eh schon grau genug, da bringt doch Farbe Freude ins Leben!" Gemeint waren richtig knallige Farben, und sehr gerne auch Orange. Meine Schwiegermutter hatte ein ganzes Zimmer in Orange eingerichtet. Innerlich schüttelte ich immer den Kopf, wenn ich da reinmusste. Die Besitzerin des einzigen, mittlerweile eingegangenen Geschenkeladens im Dorf, verkaufte mir einmal einen orangefarbenen Schirm. Sie hatte nur noch orangefarbene Knirpse, oder solcherart gemusterte, dass Orange das kleinere Übel war. Ich kaufte den Schirm zwar, habe ihn aber immer gehasst. So sehr ich mich auch anstrengte und mir immer wieder sagte: "Es ist doch nur ein Schirm". Und ausgerechnet der ging nie kaputt oder verloren. Irgendwann, ich weiss es nicht mehr so genau, ertrug ich ihn nicht mehr und warf ihn weg oder 'vergass' ihn irgendwo absichtlich. Einfach, weil ich die Farbe nicht mehr ertrug.


Heute Vormittag begegnet mir Orange überall. Es springt mich regelrecht an. Noch weit davon entfernt, meine Lieblingsfarbe zu sein, finde ich ein paar orange Tupfer unterdessen noch ganz hübsch, sonnig und warm. Mittlerweile schaue ich mich beim Kleiderkauf selber nach Farben um. Im Winter höre ich mich zur Verkäuferin sagen: "Immer dieses Schwarz, Grau und Braun, allerhöchstens mal Weiss - wie schade, dass es nicht mehr Buntes zum Anziehen gibt, wo doch das Wetter eh schon grau und düster genug ist!" Die junge Verkäuferin nickt und wird sich ihre Sache denken.


Orange ist immer noch nicht meine Lieblingsfarbe, aber ich habe mich unmerklich mit ihr ausgesöhnt: Ich habe eine orange Festplatte, eine orange Giesskanne und mein schicker Fernseher hat einen orangefarbenen Rahmen. Und das Kleid, das ich mir gestern gekauft habe, hat verdächtig viel Orange in seinem bunten Muster.

Sonntag, 6. Mai 2018

Blütenträume - im Frühling, Sommer, Herbst oder Winter

Der Frühling kam dieses Jahr spät, dann kam er geballt, und schon ist er wieder vorbei. Welcher Frühling? Der meteorologische? Oder der astronomische? Der meteorologische Kalender unterteilt das Jahr stur nach den Kalendermonaten in vier Jahreszeiten à drei Monaten. Der astronomische kennt ebenfalls vier ähnlich lange Jahreszeiten, errechnet Beginn und Dauer dieser aber nach einem  komplexen Sonnenstand-Modell. Den phänologischen Kalender kennt man weniger. Er unterteilt das Jahr nicht nach fixen Daten, sondern flexibel nach dem Blühen gewisser Pflanzen und anderen Naturbeobachtungen. So kennt er nicht vier, sondern immerhin zehn Jahresperioden. Doch selbst diese Unterteilung wird dem Jahr und seinen Veränderungen nicht gerecht.



Heute spaziere ich unter einer düsteren, grauen Hochnebeldecke, wie wir sie hier sonst nur im Winter kennen. Der garstige Wind der letzten Tage erinnert mich eher an Herbststürme als an Frühling. Und doch liegt auf den Wiesen das frisch gemähte Gras und in der Ferne leuchten gelb die Rapsfelder. Das traumhafte Blütenmeer, das ich auf diesen Fotos einzufangen suchte, ist jedoch schon Vergangenheit, und im Wald schliesst sich nun auch die letzte Lücke in den Kronen und Büschen zur undurchdringlichen grünen Wand. Die Zeit der Üppigkeit beginnt, der Sommer. Herbst im Frühling, der schon fast Sommer ist? 



Offenbar haben wir Menschen das Bedürfnis einzuordnen, zu katalogisieren und kategorisieren. Das gibt uns ein Gefühl zu verstehen, zu kontrollieren und zu beherrschen. Es gibt uns ein Gefühl für Sicherheit in einer Welt, die mit Intellekt und Logik nie ganz begriffen werden kann, und kontrolliert schon gar nicht.




Konzepte und Begriffe sind die Grundlage unserer gemeinsamen Sprache. Sie ermöglichen es, die Dinge zu benennen, so dass auch andere sie verstehen - zumindest ansatzweise. Doch sie sind grob und vereinfachend, und vielfach unzulänglich. Sobald es genauer werden soll, wird's schwierig, da fehlen uns die Worte und es kommt leicht zu Missverständnissen.

Die Welt lässt sich nicht einordnen und erklären. Kategorien und Sprache sind Hilfsmittel, das Universum jedoch ist unfassbar und widersteht hartnäckig jedem Einordnungs-, Erklärungs- und Kontrollversuch. Zuerst war da die Welt, danach kamen Konzepte und Sprache. Nicht umgekehrt. Manchmal vergessen wir das und sind dann verwirrt und verärgert, wenn das Leben sich nicht so verhält, wie wir es uns im Kopf so schön zurechtgelegt hatten.