Samstag, 21. Dezember 2013

Raureif

Während Zürich unter der Last der grauen Hochnebeldecke leidet, sitzen wir hier oben in Weisslingen mitten im dichten Nebel drin. Zusammen mit den kalten Temperaturen führt das zu einem seltenen Phänomen, das ich so noch nie beobachtet habe: Raureif. Der Nebel umhüllt alles mit seiner Feuchtigkeit, und die Kälte führt dazu, dass diese auf den Oberflächen auskristallisiert. Von weitem sieht es aus, als ob Bäume und Blätter schneebedeckt sind. Doch bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass das Weiss viel strahlender und die Konturen filigraner sind. Er aus nächster Nähe erkenne ich, dass alles mit unzähligen grossen Eiskristallen bedeckt ist.


Was das ist und wie es entsteht, erfahre ich erst später. Doch dass es etwas Besonderes ist und von einmaliger Schönheit, erkenne ich auch so: Die Welt um mich herum sieht zauberhaft aus, als habe ein Zuckerbäckermeister alles mit einer dicken Schicht Puderzucker bestreut. Die weisse Märchenlandschaft, die ich auf dem Weg zur Arbeit aus dem Bus heraus bestaune, erinnert mich an Doktor Schiwago und an kandierte Blütenblätter.



Auf der frühen Heimfahrt ist der Zauber immer noch da. Mir graut vor der Kälte, ich habe die Thermounterwäsche nicht an und auch nicht die richtigen Schuhe, um durch den Schnee zu stapfen. Zu Hause lockt die gemütliche Stube mit warmem Tee und selbstgemachtem Weihnachtsgebäck. Doch die Nikon liegt im Rucksack... Gerade noch rechtzeitig drücke ich den Halteknopf und steige schon beim Weiher aus. Niemand steigt je beim Weiher aus. Die anderen Fahrgäste schauen mich verwundert an, während ich im Niemandsland aussteige. Etwas wehmütig schaue ich dem wegfahrenden Bus hinterher und krame schicksalsergeben meine Kamera aus dem Rucksack. Und dann beginne ich zu schauen, und zu staunen, und zu fotografieren.







Ich bewege mich so gut wie gar nicht vom Fleck, und bin umgeben von den wunderbarsten Kristallformationen, in unendlicher Vielzahl und so wunderschön, dass sie fast unwirklich scheinen. Als dann auch noch die Sonne durchdrückt entstehen weitere Bilder, ein Meisterwerk nach dem anderen! Ich muss nur dastehen und auf den Auslöser drücken. Erst als die Finger trotz der dicken Handschuhe klamm vor Kälte sind, mache ich mich auf den Heimweg.



Über die gefrorenen Felder stapfe ich nach Hause. Als der nächste Bus an mir vorbeibraust, merke ich, dass ich über eine Stunde fotografiert habe. Die Sonnenstrahlen lösen den Nebel schnell auf und lassen die Eiskristalle verschwinden. Die Kraft der Sonne ist stärker als der Raureif. Doch am nächsten Tag ist das seltene Naturphänomen wieder da, von neuem angerichtet, um von neuem bewundert zu werden. Ein paar Tage lang nur ist uns dieser Zauber vergönnt, dann ist er weg. Wie ein kostbarer Traum. Als ob es ihn nie gegeben hätte.


(Mehr Bilder von diesem Spektakel auf Flickr)

Sonntag, 15. Dezember 2013

Kartause Ittingen

Falls es so etwas wie Kraftorte gibt, dann ist die Kartause Ittingen sicher einer davon.



Das ehemalige Kloster ist keine Sehenswürdigkeit, die in den offiziellen Reiseführern der Schweiz vorne aufgelistet ist. Dennoch ist sie weitum bekannt und viele Besucher kommen immer wieder gerne hierher.

Als der Fotokünstler und ich am Sonntagnachmittag ankommen, ist der Parkplatz jedoch halb leer. Die Leute sind jetzt an den Weihnachtsmärkten und im Sonntagsverkauf. Wir ziehen die Stille vor.




Die Kartause ist ein Ort der Stille. Schon wenn man über dem Kiesweg vom Parkplatz zur Klosterlage geht, spricht man automatisch leiser. Als ob jemand seinen Finger auf die geschlossenen Lippen legen würde und die Besucher behutsam zur Ruhe ermahnen würde.


Es gibt hier weder etwas Besonderes anzuschauen, noch etwas zu machen. Gemächlich spazieren wir durch die Anlage, durch die Gärten, zum Teich. Und tun das, was alle hier tun: einfach sein.


Wir spüren die wohltuende Stille, die uns umgibt, und lassen uns von ihr tragen. Sie nimmt uns auf in etwas, das grösser ist als das, was wir mit den Augen sehen und mit den Gedanken erklären können. Verbundenheit ist das Wort, das mir dazu einfällt. Alles hier scheint verbunden zu sein durch eine unzerstörbare Energie und Kraft. Alles hat seinen Platz, alles passt. Die Ruhe, die hier herrscht, ist tief und allumfassend, die Stille ist erfüllend, unaufdringlich und erhaben zugleich. Hier fühle ich Gewissheit und versöhne mich wieder mit mir und der Welt.

Mittwoch, 11. Dezember 2013

Spaziergang in Weisslingen - zu zweit

Es ist schon erstaunlich: Meine Spaziergänge in Weisslingen sind mehr oder weniger immer dieselben, und doch sehe ich jedesmal Neues, oder Bekanntes auf neue Weise. "Frisches Sehen" nennt man das in Miksang.

Heute bin ich nicht alleine auf meinem Foto-Spaziergang unterwegs - der Fotokünstler ist zu Besuch hier. Das macht den Spaziergang nochmals anders. Durch die Augen des Fotokünstlers entdecke ich Motive, die ich selber vielleicht nicht beachtet hätte.



Es ist schön, Gesellschaft zu haben, motivierender. Nicht nur aus fotografischer Sicht, aber auch.

Weisslingen liegt auf einem Hügelkamm im Zürcher Oberland. Hier hat es oft bedeutend mehr Schnee und Sonne als weiter unten im Flachland, wo die Verkehrsachsen und Zentren liegen, die teilweise tage-, ja wochenlang im Hochnebel gefangen sind.


Diesmal war es aber gerade der Nebel, der uns rauszog. Über Nacht war wieder frischer Schnee gefallen. Obwohl es ein paar Grad zu warm war, blieb er liegen. Doch die Feuchtigkeit schien richtig in der Luft zu hängen.



Der Fotokünstler konnte sich an all den Motiven nicht sattsehen und -fotografieren. Das wirkte ansteckend. So kamen wir nur langsam vorwärts und fotografierten mehrere Stunden lang. Es ist schön, eine Leidenschaft miteinander zu teilen.



Dann passierte das, weshalb ich den Winter hier oben so liebe: Der Nebel lichtete sich und raus kamen ein stahlblauer Himmel und die warme, strahlend helle Sonne. In solchen Momenten ist es, als sei man in den Skiferien in den Bergen, wo Sonne und Schnee die Gesichter der Menschen zum Strahlen bringen.



Meine kontemplativen Foto-Spaziergänge mache ich sonst immer alleine. Ich bin schon auch gerne in Gesellschaft unterwegs, aber es sind dann andere Arten von Spaziergängen. Der Fotokünstler ist der Einzige, mit dem ich diese Erfahrung so vollumfänglich teilen kann. Er nennt das, was wir machen, Zen-Fotografie, ich Miksang oder kontemplative Fotografie. Der Name spielt keine Rolle, die Bedeutung ist dieselbe.