Die Kiesel am Strand von Étretat sind gross, so gross wie Eier, manche auch etwas kleiner, wie überdimensionierte Wachteleier. Das Gehen auf diesen Steinen ist mühsam, das stelle ich gleich am ersten Tag fest, als ich barfuss über diesen Strand zu gehen versuche. Ich finde keinen Halt, die Steine weichen unter meinem Gewicht, neigen sich zur Seite, rollen unter meinen Füssen weg. Ich torkle wie eine Betrunkene, sinke ein wie in Treibsand. Nur dass es kein Sand ist, sondern Tausende, ja Millionen von Kieseln, gross, hart und rund. Rundgeschliffen vom Meer. Ich habe an keinem einzigen eine Ecke, scharfe Kante oder auch nur eine kleine Spitze entdeckt. Es sind Steine, wie in man sie eher in einem Flussbett in gewissen Gebirgstälern im Süden findet, zum Beispiel im Tessin oder im Friaul, als am Meer.
Die Felsen bestehen aus Kreide und Feuerstein. Kreide ist weich und porös, Feuerstein sehr hart. Der Fels erodiert durch den Regen, Gesteinsbrocken fallen runter ans Ufer. Das Meereswasser wäscht die Kreide aus, zurück bleibt der harte Feuerstein, der in der Brandung rundgeklopft wird. Wie lange es wohl dauern mag, bis aus einem Felsbrocken ein so perfekt abgerundeter Kiesel entsteht?
Die Kiesel sind einzigartig, faszinierend, wunderschön. Von weitem sehen sie alle unauffällig und ähnlich aus. Eine Masse an weissen Rundsteinen eben. Doch als ich mir die Zeit nehme und genauer hinschaue, merke ich, dass jeder anders ist: der eine hat ein kreisförmiges, rostfarbenes Muster, der andere blass-lila Einschlüsse, ein dritter mit zwei schneeweissen Kreisen sieht aus der Kopf einer Eule. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, entdecke immer wieder neue. Jeder ist ganz besonders schön, feingeschliffen, abgerundet. Keiner ist wie der andere, und jeder ist in sich vollendet. Ich möchte sie am liebsten alle mitnehmen. Jetzt verstehe ich die Verbotsschilder. Wenn man anfängt zu schauen und zu sammeln, entdeckt man immer noch mehr, noch speziellere, noch schönere.
Und was antwortet der Fotokünstler auf meine Frage, was ich ihm denn mitbringen soll: die leckeren Kekse, eine einheimische Spezialität hier? Oder einen Calvados, ich habe sogar einen in Bio-Qualität entdeckt? "Nein, mach dir bitte keine Umstände, bring mir doch einfach einen Stein mit!"