Sonntag, 1. Februar 2015

Spaziergang in Weisslingen - Paarlauf

Als Single sollte man am Sonntag hier nicht spazierengehen. Ausser es macht einem wirklich gar nichts aus, dass man keine Familie, keine Kinder, ja nicht mal ein bis zwei Hunde als Begleitung hat. Denn der Sonntag ist hier definitiv Familientag beziehungsweise "Paartag".



Beim Spazierengehen begegnen mir vor allem Paare, konventionelle wohlverstanden, also Männlein und Weiblein meist mittleren bis gesetzteren Alters. Kinder wenige, Jugendliche gar keine. Wobei mir vor ein paar Wochen zum erstenmal einer begegnet ist, ein männlicher Jugendlicher, der ebenfalls alleine spazieren ging. Ich war völlig sprachlos und konnte meine erstaunten Augen von diesem wandelnden Jahrhundertereignis kaum abwenden. Vereinzelt habe ich auch schon eine junge Frau gesehen mit einem Hund, den sie kaum beachtet hat, so sehr war sie in ihr Handygespräch vertieft. Ich habe mir vorgestellt, dass sie von den Eltern zum Gassigehen geschickt wurde: "Nie tust du etwas im Haushalt! Immer muss ich...! Wenigstens mit dem Hund könntest du...!" Aber wer weiss das schon.



Gleichgeschlechtliche Paare sieht man hier ebenfalls kaum. Ab und zu eine Mutter mit Tochter beim Nordic Walken. Einmal kamen mir zwei jüngere Frauen entgegen, offensichtlich Freundinnen oder Schwestern, aber das waren Deutsche. Die sind mit dem Paarlauf-Ritus noch nicht vertraut und können sich deshalb leichter darüber hinwegsetzen. Zumindest anfangs. Denn Ausländer spazieren hier ebenso selten wie Jugendliche. In den letzten paar Jahren kann ich mich an genau zwei Begegnungen mit Ausländern erinnern: einmal eine deutsche Familie im Wald, die anscheinend frisch zugezogen war und ihr neues Umfeld auskundschaften wollte, und dann eine spanisch-amerikanische Familie in verschiedenen Kombinationen (Vater mit Tochter, ganze Familie mit englischsprachigem Besuch, Vater beim Joggen).



Homosexuelle Paare habe ich hier auch noch nie gesehen. Die wären in Weisslingen ja noch exotischer als Singles. Von letzteren gibt es in meiner näheren Umgebung mittlerweile doch immerhin schon drei, beziehungsweise vier, wenn man die Pferdefrau dazuzählt, die ihre Nachmittage und Abende immer hier im Stall verbringt. Würde man die verwitweten Betagten, die bereits mit einem Bein im Pflegeheim stehen, auch noch mitzählen, dann würde die Zahl natürlich sprunghaft ansteigen. Aber denen begegne ich auf meinen Spaziergängen erst recht nie. Als ex-Paarläufer wollen sie möglicherweise nicht jetzt noch im hohen Alter mit einer neuen Gewohnheit beginnen.



Tja, auf dem Land hat alles noch seine Ordnung. Deshalb gehe ich am Sonntag am liebsten gleich nach dem Frühstück spazieren, denn da habe ich die Natur noch für mich. Bis die Paarläufer kommen, bin ich meist wieder zu Hause. Oder unter der Woche, da ist meist eh niemand unterwegs. Höchstens ein paar Hundehalter, doch die führen ihre Hunde mehr in den Niederungen der Felder und Weiden spazieren. Im Wald oben ist kaum jemand, nicht einmal Jogger oder Mountainbiker. Übrigens ist es sogar sonntags so, dass im Verhältnis zur Dorfbevölkerung nur ein minimaler Prozentsatz überhaupt spazieren geht, und davon schaffen es die wenigsten bis in den Wald. Was mir immer wieder Stoff zum Nachdenken gibt. Umso besser. Dann kann ich der Stille und dem Vogelgezwitscher in Ruhe lauschen.



Früher übrigens, da ging es am Weiher aber anscheinend noch ganz anders zu und her. Da war der Brauiweiher ein richtiger Hotspot und Weisslingen dafür bis über die Landesgrenzen hinaus berühmt oder berüchtigt (je nach Sichtweise). Da sind die Leute bis von Winterthur hergekommen, um hier zu baden und zu picknicken. Und auf der hinteren Uferseite wurde sogar nackt gebadet! Ja, es kommt noch krasser: Da entstand ein sogar international bekannter Treffpunkt für Schwule, die hier nackt gebadet, sich gesonnt und anschliessend im Wald gepaart haben. Da sei es nicht selten passiert, dass dir beim Spaziergang plötzlich ein Nackter auf dem Waldweg entgegengekommen ist. Oder dass beim beschaulichen Übers-Wasser-in-die-Ferne-Schauen plötzlich eine Frau demselbigen entstiegen ist und zwar im Evakostüm, wie Gott sie erschaffen hat - wie Ursula Andress im James-Bond-Film also, nur ohne Bikini. Ja, das erzählt man sich hier. Leider kenne ich diese wilden Wislinger Zeiten nur vom Hörensagen, denn unterdessen hat man die Nudisten vertrieben und die Schwulenszene verboten. Anscheinend den Kindern zuliebe. Jetzt begegnen einem im Wald weder Nudisten, noch Schwule und erst recht keine Kinder. Und im Brauiweiher vermehren sich nicht einmal mehr die Frösche, sondern nur noch Algen. Und statt Meerjungfrauen schwimmen darin nur noch die nie gefundenen Leichen der Selbstmörder.