Sonntag, 27. Oktober 2019

Auf dem Weg

In letzter Zeit bin ich viel zu Fuss unterwegs, meistens alleine. Zuletzt bin ich in mehreren Etappen auf dem Schaffhauser-Zürcher Jakobsweg von Schaffhausen bis zu mir nach Hause gewandert. Dabei gehe ich nicht, um an einem besonderen Ort anzukommen oder um spektakuläre Landschaften zu sehen. Ich gehe um des Gehens willen.


Ich gehe aus einem Drang heraus, getrieben von einer inneren Unruhe. Ich gehe, um auszubrechen aus meinem durchgetakteten Alltag, der viel zu häufig geprägt ist von Bildschirmen, Druck und Enge. Ich gehe um zu fliehen, und ich gehe um anzukommen. In erster Linie bei mir selbst.


Ich gehe, um Gedankenkreisen zu durchbrechen, um wirre Gedanken zu ordnen, vor allem aber gehe ich, um nichts zu denken. Um Leere zu schaffen für Ungedachtes und Raum für neue Gedanken.




Ich gehe, um mich lebendig zu fühlen, um mich zu verbinden, mit mir selbst und mit der Welt, die mich umgibt. Ich gehe, um die Relationen wiederherzustellen, um die Leichtigkeit wiederzufinden und um mich wieder einzuordnen ins grosse Ganze.

Ich gehe, um in Bewegung zu bleiben. Um nicht zu vergessen, wie man aufbricht. Ich gehe, um vorwärtszukommen, weiterzukommen, auch wenn ich kein Ziel habe, das ich erreichen will. Ich gehe, um nicht stillzustehen.

Ich gehe, um Freundschaft zu schliessen mit mir. Denn auch diese Freundschaft will gepflegt sein.


Ich gehe, um zu sehen. In der Ferne sah ich die Luft flimmern, erstaunt weil es doch gar nicht so heiss war. Und überwältigt, als ich erkannte, dass es nicht von der Hitze kam, sondern von unendlich vielen Staren, die sich versammelten und mit ihrem Flug die Luft zum Vibrieren brachten. Ich sah schmucke Fachwerkdörfer, jede Ecke perfekt herausgeputzt und sorgfältig geschmückt, und keinen Menschen darin. Ich sah, wie verkehrsreiche Durchgangsstrassen Ortschaften durchschneiden und Begegnungen verunmöglichen. Ich sah, wie selbstverständlich alles auf Autos ausgerichtet ist, nicht auf Fussgänger und erst recht nicht auf Tiere. Ich sah einen toten Igel am Strassenrand, überfahren in der 30er-Zone. Ich sah eine Geflügelzucht mitten im Nirgendwo, mit Stacheldraht und hohen Zäunen gesichert, mit verrammelten Türen und winzigen Fenstern unter dem Dach. Und aus dem Stall, der Platz für tausende Hühner bieten muss, drang kein Laut, nur gespenstische Stille und das Brummen der Lüftungsanlage. Ich sah, wie das goldene Herbstlicht den bunten Blätterteppich zum Leuchten brachte, und wie die Dämmerung den Wald märchenhaft blau einfärbte. Ich sah bunte Graffiti an grauen Betonwänden, grüne Wüsten in "naturbelassenen Naherholungsgebieten" und lauschige Plätzchen, wo niemand sie erwarten würde.


Wenn ich nach dem Gehen wieder zu Hause ankomme, dann ist die Welt um mich herum vielfältiger, vielschichtiger geworden. Dann bin ich meinen Weg gegangen. Den eigenen Weg findet man nicht, man geht ihn bloss.