Sonntag, 3. November 2013

Schönheit der Vergänglichkeit

Ist sie nicht wunderschön, die verblühende Rose? Ist ihre Schönheit nicht von ganz besonderem Reiz?


Ich habe mich in letzter Zeit vermehrt mit dem Altern auseinandergesetzt, sicherlich bedingt durch den Unfall, aber auch durch die Jahreszeit und weil ich auch wirklich älter werde.

Früher habe ich Gedanken ans Altern schnell verdrängt, als ob mich das nichts anginge. Alt sein, gebrechlich, abhängig von anderen, hilflos, an den Rand der Gesellschaft gedrängt, Rollenwechsel vom Schaffer zum Zuschauer, immer mehr Einschränkungen ausgesetzt - so habe ich mir Älterwerden vage vorgestellt. Keine tollen Aussichten. Dank meiner vorübergehenden Behinderung habe jetzt einen ersten Vorgeschmack darauf bekommen.



Nun war ich es, die der eiligen Passantenmasse im Weg stand, weil ich langsamer als die anderen unterwegs war. Im Tram war auch ich jetzt auf einen freien Sitzplatz oder einen sicheren Standplatz angewiesen. Und ab sofort gehörte ich zu denen, die bequeme und vor allem stabile Schuhe den modischen vorziehen, die sich am Geländer festhalten, wenn sie die Unterführung benutzen, die an der Kasse umständlich das Kleingeld aus dem Portemonnaie klauben, während sich hinter ihnen eine ungeduldige Schlange bildet.



Doch da ich langsam ging, hatte ich Zeit zu schauen: Bäume im Wind, der blaue Himmel, die Blicke der Menschen, die mir entgegenkamen. Manchmal verpasste ich ein Tram, weil ich jetzt nicht noch schnell über die Strasse rennen konnte. Doch während ich aufs nächste wartete, beobachtete ich die anderen Wartenden und genoss es, wie die angenehm laue Herbstluft meine Haut streichelte. Wenn ich im Tram unsicher um mich blickte, fand sich fast immer eine hilfsbereite Person, die aufstand und mir Platz machte. Manchmal ergab sich dann auch ein freundliches Gespräch. Ich musste mir jetzt für jede Aufgabe viel Zeit einräumen, und wollte ich irgendwo hin, musste ich rechtzeitig aus dem Haus gehen. Doch gerade deshalb war ich nicht mehr gehetzt. Und gerade weil ich nur noch eins nach dem anderen machen konnte, wurde ich ruhiger. Ich hatte es aufgegeben zu stressen.



Auf meinen langsamen Spaziergängen oder wenn ich mich auf einer Bank ausruhte, ergab sich oft die Gelegenheit für einen netten Wortwechsel mit anderen Vorbeigehenden. Ich redete zum ersten Mal mit dem Hundehalter, der seit letztem Winter immer wieder meine Wege kreuzt, mit der Pferdebesitzerin, die jeden Abend den Stall ausmistet, mit der alten Frau, die den ganzen Tag vor ihrer Haustüre sitzt und sich über einen Schwatz freut. Ich redete auch mit den Kühen auf der Weide und den beiden Pferden auf der Koppel - sie hörten mir aufmerksam zu.


Ich schien eine andere Ausstrahlung zu haben. Ich fühlte mich tatsächlich anders als im normalen Arbeitsalltag, wenn ich erschöpft und unter Zeitdruck nach Hause gehetzt und mit dem Tunnelblick zielgerichtet unterwegs war. Jetzt war ich sicher entspannter, vielleicht offener, wahrscheinlich präsenter und zufriedener.



Die Rose stirbt nicht, sie befindet sich im Wandel. Sie wird nicht hässlich, sondern bleibt schön. In ihrem Zerfall bekommt sie etwas Zauberhaftes. Sie wird zarter und durchlässiger für eine andere Art von Schönheit, die tiefer sitzt, einzigartig ist und das Herz berührt. Wer sich die Zeit dafür nimmt, aufmerksam hinschaut und sich dafür öffnet, nimmt es wahr. Wenn das Altern mir das ermöglicht, freue ich mich schon darauf.